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Gira Tina

Intelligent



Laut Definition des Dudens ist Intelligenz „die Fähigkeit des Menschen, abstrakt und vernünftig zu denken und daraus zweckvolles Handeln abzuleiten“. Das klingt ja eigentlich gar nicht so besonders, wie es von jedem dargestellt wird. Aber anscheinend ist es doch etwas Außergewöhnliches.

Laut Definition ihrer Eltern ist es „etwas, auf das du sehr stolz sein kannst und das unbedingt gefördert werden muss“. So oft, wie sie diese Worte in den vergangenen Wochen, Monaten und Jahren gehört hatte, hätte sie fast schon automatisch diese Einstellung übernommen. Fast wäre sie überheblich gegenüber anderen geworden, die sie als dümmer als sich selbst ansieht. Fast. Denn glücklicherweise gab es jemanden, der sie auf dem Boden bleiben ließ.

Laut Definition ihres Bruders ist Intelligenz „etwas, das du halt hast und ich und die meisten anderen nicht. Aber bilde dir bloß nichts darauf ein!“ Das tut sie auch nicht. Auch wenn sie schon sehr gut weiß, dass sie anders als fast alle Gleichaltrigen ist.

Ab einem IQ von 130 gilt man als überdurchschnittlich intelligent, als hochbegabt. Ab einem IQ von 145 als höchstbegabt. Bei ihrem IQ-Test hatte sich herausgestellt, dass sie einen IQ von 143 hat. Seitdem hat sich alles verändert. Für ihre Eltern war das „die Chance“. Sofort nahmen sie sie von der Schule, meldeten sie in einer speziellen Hochbegabtenschule an. „Es ist nur zu deinem Besten. Du hast dich doch vorher immer gelangweilt!“, beteuerten sie.

Ja, sie wusste, dass es nur zu ihrem Besten war. Ja, sie hatte sich gelangweilt. Aber dennoch. Für sie war es das Schlimmste gewesen, das je hatte passieren können. Seit diesem Tag war sie von all ihren Freunden getrennt, saß in einer neuen Klasse. Für sie, die komplett schüchtern war, der absolute Albtraum. Dazu kam noch, dass sie vergleichsweise spät zur Klassengemeinschaft hinzugestoßen und dadurch per se schon eine Außenseiterin war. Aus den paar Mal, bei denen sie sich traute, jemanden anzusprechen, wurden keine Freundschaften. Fast augenblicklich wurden die Angesprochen wieder von ihren Freunden abgelenkt. Irgendwann gab sie es auf.

Zu allem Überfluss fingen ihre Eltern dann auch noch an, sie von ihren Freundinnen zu isolieren. „Die lenken dich bloß ab“, sagten sie. „Du musst dich auf die Schule konzentrieren“, sagten sie. Und das tat sie ja auch! Sie lernte bis spät in die Nacht hinein, brachte immer gute Noten mit nach Hause. Doch all das nützte nichts. Ihre Freunde konnte sie nur heimlich treffen. Natürlich hatte sie mehrmals protestiert, sich gewehrt. Doch schlussendlich hatte es dann doch nichts genutzt. Und so lebten sie und ihre Freunde sich langsam auseinander.

Erst als sie älter wurde, wurde ihr bewusst, wie sehr die Hochbegabung ihr Leben zerstört hatte. Wie sehr sie darunter gelitten hatte, dass ihre Eltern immer über ihr Leben bestimmt hatten, ohne auch nur einmal zu fragen, ob sie das denn auch wirklich wollte. Und ihr wurde klar, dass sie sich wehren musste.

Sie zog aus. Trotz den Protesten ihrer Eltern zog sie aus, versuchte, ihr eigenes Leben zu leben. Natürlich war es anfangs schwer, so wie es immer anfangs schwer ist. Doch sie schaffte es, baute sich ihre eigene Existenz auf. Tat das Schlimmste, was sie in den Augen ihrer Eltern wohl hatte tun können, heiratete einen Mann, der einen weitaus geringeren IQ als sie hatte. Doch das war ihr nicht wichtig. In ihren Augen war er perfekt und sie liebte ihn. Das war alles was zählte.

Obwohl ihre eigentliche Begabung sich für sie in einen Albtraum verwandelt hatte, wurde sie wieder glücklich. Und sie schwor sich eins: Wenn ihre Kinder ihre Hochbegabung erben sollten, würde sie alles anders machen als ihre Eltern. Sie sollten selbst entscheiden, wie sie glücklich werden wollten. Denn das war alles, was zählte. Dass man glücklich war, egal wie besonders oder normal man war. Das war das, was wichtig war.

 




Envoyé: 17:23 Sun, 28 June 2020 par: Gira Tina