Retour

Henriquez Navarro Laura

Auf Wiedersehen



Gehetzt schaute sie sich um und presste den kleinen Gegenstand fester gegen ihre Brust. Sie zwang ihr Beine, noch schneller zu laufen, obwohl sie schon vor Anstrengung brannten.

Sie war müde, so müde, sie wollte sich hinlegen und schlafen, einfach nur schlafen, am besten direkt auf dem verschneiten Boden unter ihr.

Doch sie konnte nicht, sie durfte nicht. Nicht wenn die Leben all jener, die sie liebte, auf dem Spiel standen.

Sie kämpfte sich weiter durch das dichte Unterholz, die Äste schlugen ihr ins Gesicht, zerkratzten ihre Arme und Beine. All ihre Muskeln schmerzten, schrien nach Erlösung.

Wieder sah sie über die Schulter, in der Ferne sah sie den gelblichen Schimmer der Laternen, hörte bereits das Jaulen und Heulen der Wölfe. Ausschließlich zum Jagen waren sie gezüchtet worden, blutrünstig und schnell.

Sie hatte es fast geschafft, hatte sie beinahe abgehängt. Hoffnung durchströmte sie, gab ihr neue Energie. Sie lief wieder schneller, preschte durch den verschneiten Wald, immer weiter und weiter. Der Wald lichtete sich langsam und sie strengte sich noch mehr an. Bald hatte sie es geschafft, nur noch über den vereisten Fluss und - sie stolperte und schrie erschrocken auf. Mit einer Hand fing sie sich ab und landete hart auf dem Boden.

Sie durfte ihn nicht loslassen, ihn nicht verlieren!

Rasch rappelte sie sich auf, klopfte den nassen Schnee aus der Kleidung.

Ein Knurren erklang hinter ihr. Sie wirbelte herum und blickte in die gold-braunen Augen eines Wolfes. Lautlos hatte er sich an sie heran geschlichen. Er setzte zum Sprung an und sie bewunderte für einen kurzen Augenblick das geschmeidige graue Fell des Wolfs.

Sie würde jetzt sterben, das wusste sie.

Sie umklammerte den Gegenstand fester, krampfte die Hand zusammen.

Schon spürte sie das Gewicht des Tiers auf ihrem Brustkorb, die spitzen Krallen bohrten sich in ihre Schultern und sie stürzte nach hinten.

Ein brutaler, höllischer Schmerz explodierte in ihrem Kopf und sie kniff reflexartig fest die Augen zu. Das Jaulen der anderen Wölfe stieg ihr in die Ohren und Schnauzen tasteten sie ab.

Sie blinzelte und merkte, dass ihre Sicht unglaublich verschwommen und unscharf war..

Einer der Wölfe packte sie an ihrem Schuh und schleifte sie über den Boden. Kurze Schwindelanfälle befielen sie immer wieder in kurzem Abständen und sie wusste, sie verlor zu viel Blut durch die Kopfwunde.

Ein helles Licht erschien plötzlich an ihrem linken Sichtfeld. "Hab keine Angst, Miranda!", rief plötzlich eine klare Kinderstimme. Das war doch... nein, das konnte unmöglich sein.... ihre Schwester? Aber... sie war doch schon so lange.... fort.

"Nein, große Schwester. Wir sind alle wohl auf. Mach dir keine Sorgen, bald werden wir uns wieder sehen. Du musst nur los lassen, große Schwester! Nur... los lassen..." ihre Stimme wurde immer schwächer "los... lassen...!"

"Auf Wiedersehen, große Schwester."

Ein letztes Flüstern.

Ein Versprechen.

Auf Wiedersehen.




Envoyé: 09:13 Wed, 17 February 2016 par: Henriquez Navarro Laura