Die Pfeife

Ich schlurfe über die vom Alter verbogenen Holzdielen zur Anrichte hinüber. Die schwache Glühlampe an der Decke flackert kurz und gibt ein summendes Geräusch von sich. Draußen trommelt der Regen gegen die Flügelfenster des ärmlichen Reihenhauses, welches bereits meine Großeltern bewohnt haben. Ein Blick an den halb zugezogenen Vorhängen vorbei offenbart einen dunkelgrau verhangenen Nachthimmel. Es ist spät. Die meisten Menschen schlafen schon. Doch das Bett lockt mich nicht. Dazu sind meine Beine zu unruhig. Das sind sie oft in letzter Zeit.

An der Anrichte angekommen ziehe ich mit meinen von Gicht geplagten Fingern an dem kalten Eisengriff der obersten Schublade. Dabei fallen mir die vom Nikotin vergilbten Fingernägel ins Auge. Schön sind sie nicht. Aber was schärt mich meine Schönheit? Ob ich den anderen gefalle oder nicht, ist mir schon seit einer langen Zeit gleichgültig.

Nach einigem Rucken gibt die Schublade endlich nach und lässt sich in meine Richtung ziehen. Ich habe sie seit einer Ewigkeit nicht mehr geöffnet. Es liegt nicht viel darin. Eine Schachtel Streichhölzer. Meine alte Tabakpfeife aus Kirschholz. Ein Päckchen Kaminanzünder. Und die Pistole.

Nach ebendieser langen meine Finger, als ich noch etwas anderes in der Schublade bemerke. Es liegt ganz hinten in der Ecke unter einer dicken Staubschicht versteckt, als wollte es sich meinem Blick entziehen. Ich greife danach. Wische mit dem Daumen den Staub ab. Und betrachte es. Betrachte es lange. Siehe mich selbst auf dem alten Foto an, das vor so vielen Jahren aufgenommen wurde. Ich habe ganz vergessen, dass es überhaupt existiert. Mein 22-jähriges Ich lächelt mir mit zusammengekniffenen Augen entgegen. Ich bin kein hässlicher Mann gewesen. Damals vor 53 Jahren. Student. Jung und stolz. Dumm und naiv. Mit einem unbeschwerten Leben, wie man es nur in der Jugend haben kann.

In Gedanken versunken schnappe ich mir meine alte Pfeife mit der linken Hand, während ich mit der rechten weiterhin das Foto festhalte. Ich zwinge meine Beine, mich bis zum Ledersofa zu tragen, und lasse mich dann auf die plattgesessene Sitzfläche fallen. Foto und Pfeife lege ich kurz auf dem Nachttisch ab, welcher neben dem speckigen Sofa steht, dann suche ich mit den Händen nach dem Lichtschalter der Stehlampe. Erst nach mehrfachem Verrenken und einem besorgniserregenden Knacken in meinem Rücken ergreifen meine Finger schließlich die Schnur und ziehen daran. Ein kaltes Licht ergießt sich auf meinen Schoß. Ich ziehe ein bereits geöffnetes Tabaktütchen aus dem Nachtschrank und beginne, die alte Pfeife zu stopfen. Der vertraute Geruch erfüllt die Stube und lässt mich ruhiger werden.

Die Kirschholzpfeife ist ein Geschenk gewesen. Ich habe sie immer hässlich gefunden und all die Jahre in der Schublade weggesperrt. Üblicherweise rauche ich meine Pfeife aus Eichenholz. Doch heute ist es anders. Heute rauche ich zum letzten Mal eine Pfeife. Und dann kann es auch die aus Kirschholz sein.

Ich zünde den Tabak an, stecke mir die Pfeife in den Mund und ziehe kräftig daran. Die Pfeife ist im Grunde gar nicht so schlecht. Sie liegt gut in der Hand, wurde hochwertig verarbeitet und erfüllt ihren Dienst wie jede andere Pfeife. Und so hässlich, wie ich sie in Erinnerung hatte, ist sie eigentlich auch nicht. Ein Mädchen hat sie mir geschenkt. Dasselbe Mädchen, das das Foto von mir aufgenommen hat. Ich klemme mir die Pfeife zwischen die Zähne und greife nach dem alten Papierfetzen. Im Schein der Stehlampe kann ich das Foto besser betrachten. Die Brille auf meiner Nase verrutscht ein Stück, als ich den Kopf senke. Ich rücke sie wieder zurecht und halte das Foto näher an mein Gesicht. Es ist am Abend aufgenommen worden, das spärliche Sonnenlicht lässt die Fenster der Häuser im Hintergrund feurigrot leuchten. Es muss im Herbst oder im Winter geschossen worden sein, denn ich trage eine schlichte Strickmütze auf dem Kopf und einen dicken Wollschal um den Hals gewickelt. Angestrengt beäuge ich den Hintergrund genauer, dann fällt es mir plötzlich wieder ein. Die Universitätsstraße! Die Straße, die ich während drei Jahren fast jeden Tag von meiner Studentenwohnung zum Unigebäude gelaufen bin. Die Straße, auf der ich sie aus Versehen angerempelt habe. Und sie anschließend zu einem Kaffee einlud. Die Straße, auf der sie von einem Laster erfasst worden ist.

Ich ziehe an meiner Pfeife, der Tabak glimmt schwach auf, dann atme ich den Rauch aus. Sie hat mir die Pfeife geschenkt. Weil sie wusste, dass ich in meiner Jugend Antiquitäten gesammelt habe. Diese Pfeife hat sie im Keller eines kleinen Ladens gefunden – der Ladeninhaber hat ihr versichert, dass sie alt und wertvoll sei. Und sie hat es geglaubt. Und sie mir gekauft. Ich habe ihr nie gesagt, dass die Pfeife nur Ramsch ist. Ich habe sie glauben lassen, dass sie mir gefiele. Und nach ihrem Unfall – nachdem sie eine Pfeife nicht mehr von einem Schnabelbecher hätte unterscheiden können – habe ich sie weggepackt. Ich habe die Pfeife weggesperrt, sowie man sie weggesperrt hat.

Nur ein einziges Mal habe ich sie besucht. Und was ich in dem runtergekommenen Pflegeheim zu sehen bekommen habe, hat mich so sehr aus der Bahn geworfen, dass ich nie wieder dahin zurückgekehrt bin.

Ob sie noch immer da ist?

Ob sie noch lebt? Sie ist zwei Jahre jünger gewesen als ich. Dann müsste sie heute 73 sein. Sie könnte noch leben. Vielleicht. Wahrscheinlich nicht.

Ich will mich gerade wieder aus dem Sessel heben, um das Foto an seinen verstaubten, dunklen Platz in der Schublade zurückzulegen und mir endlich die Pistole zu schnappen, als mir die Schrift auffällt.

Meine Finger lösen sich von den Armlehnen, auf die ich mich beim Aufstehen stützen wollte, und mein Blick heftet sich abermals auf das Papier in meinen Händen. Dieses Mal nehme ich die Rückseite in Augenschein, wo die in schnörkeliger Schreibschrift verfassten Worte stehen. Sie verblassen bereits, aber sie sind noch lesbar.

Du – meine erste Flamme. Die hoffentlich auch noch in 50 Jahren brennt.

Es ist ihre Schrift. Dieselbe Schrift, in der sie ihre Seminarnotizen verfasst hat. Eine Schrift, die ich so lange nicht mehr gesehen habe. Hätte sie ahnen können, wie schnell unser Feuer tatsächlich ausgebrannt ist, hätte sie dieselben Worte gewählt? Wie lange hat in ihrem Innern eine Glut geglommen, die meine jahrelange Abwesenheit langsam gelöscht hat? Oder war das Feuer in dem Moment erstickt, als sie die Scheinwerfer des Lastwagens hat auf sich zukommen sehen?

Das Foto beginnt zu beben, als ich das Zittern in meinen Händen nicht mehr unterdrücken kann. Sie ist es gewesen, die mir die Unbeschwertheit am Leben genommen hat. Ich habe ihr stets die Schuld an meinem Unglück gegeben. Wütend war ich. Zynisch bin ich geworden. In all der Zeit habe ich mir eine Hornhaut angelegt, die mich vor jedweden Gefühlen schützen soll. Und jahrelang hat diese Hornhaut verhindert, dass mich noch irgendetwas berührt. Ausgerechnet dieses unbedeutende Foto in meiner Hand, das Abbild meines vergangenen Ichs, das ich längst nicht mehr bin, hat in diese Hornhaut geschnitten wie ein Messer durch warme Butter.

Was ist nur aus mir geworden? Die Wut, die ich auf sie und auf die Welt gerichtet habe, galt eigentlich immer nur mir selbst.

Es war ein Fehler, sie damals aufzugeben. Ich hätte ihr zur Seite stehen müssen, aber ich bin feige gewesen. Ich stehe noch in ihrer Schuld, und es ist diese Schuld, die mich zwingt, von meinem Plan abzulassen.

Mit der Kirschholzpfeife in meinem Mund stehe ich auf. Stecke das Foto in die Brusttasche meines Hemdes. Schlurfe durch die Stube zur Anrichte. Es ist nicht die Pistole, nach der ich greife. Es ist das Telefonbuch, das auf der Anrichte liegt. Ich suche nach der Nummer des Pflegeheims und gebe sie im Tastenfeld des Kabeltelefons ein.

Ich werde meine Schuld tilgen. Und die Last, die fast mein ganzes Leben lang auf meiner Seele gelegen hat, endlich abwerfen. Danach bin ich entweder erlöst – oder ich werde mich selbst erlösen.

 Ich ziehe noch einmal kräftig an meiner Kirschholzpfeife, bevor der piependen Wählton einsetzt.  



news created by Melanie Loes: 03.06.2021