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Schneider Louana


Das letzte Licht

Der Hunger fraß ihn von innen auf, aber Aarian war bereits daran gewöhnt. Wie konnte er es nicht sein nach Jahren ohne eine anständige Mahlzeit oder einem Dach über dem Kopf. Anfangs dachte er, dass er den Hunger nicht überleben würde, aber mittlerweile war er nur noch ein dumpfes Stechen, als hätte er Bauchschmerzen, die nicht aufhörten.  

Aarian stand von seinem Platz auf dem Gehweg auf und streckte seine Beine, die stumpf vom ständigen Sitzen und der Kälte waren. Er beschloss, eine Runde durch die Stadt zu drehen, mit der Hoffnung auf etwas zu essen, obwohl der Himmel sich bereits endlos schwarz über ihn erstreckte. Er wagte sich tiefer in die kleine Stadt und wanderte durch die verlassenen Einkaufsstraßen, bis er auf eine Gruppe von Jugendlichen traf und sie um ein wenig Geld für Essen bat.  

“Geh zurück in dein Land. Du hast hier nicht zu suchen”, schrien sie Aarian an. Verdrängte Erinnerungen an seinen zurückgelegten Weg blitzten in seinem Kopf auf, doch er konnte jetzt nicht vor Fremden zu Scherben zerfallen. Scherben, die einst er selbst waren und nun nur mit Mühe zusammengehalten wurden. “Bitte, ein wenig Geld”, flehte Aarian , aber die Fremden hörten nicht auf ihn anzuschreien. “Du kannst froh sein, dass ich die Polizei noch nicht gegen dein aggressives Betteln gerufen habe”, mahnte ein Junge. “Ich möchte nur etwas zu essen”, wiederholte Aarian leise und blickte zum Jungen hinauf.  

“Du kriegst was zu essen”, rief ein anderer, “nämlich meine Faust.” Er schlug auf Aarian ein, dessen Beine sofort unter ihm zusammenklappten, während die anderen johlten und lachten. Es war das Letzte, was Aarian hörte, bevor er in der endlosen Schwärze ertrank, die ihn langsam umgab.  

Als Aarian wieder zu sich kam, waren die Fremden verschwunden, aber er rannte trotzdem so schnell seine Beine ihn tragen konnten zum Park der Stadt, wo er mit etwas Glück unter einer Brücke schlafen konnte. 

Als er ankam, legte er sich unter die kleine Steinbrücke des Parkes, doch die Kälte und schlechte Erinnerungen rissen ihn stetig aus seinem Schlaf, sodass er einen Spaziergang unternahm, um seine wirbelnden Gedanken zu beruhigen. Überraschenderweise traf er unterwegs auf eine Frau, die teetrinkend unter dem Licht einer Straßenlaterne auf einer Wiese saß. Aarian traute sich nicht auf sie zuzugehen, obwohl sie einen Korb mit Essen bei sich hatte, aber als die Frau ihn zu sich rief, gehorchte er. Sie hatte lange weiße Haare und faltige Haut. Aarian war sich sicher, dass er sie noch nie zuvor gesehen hatte, aber sie schien für ihn wie eine alte Bekannte. Sie bot ihm ein belegtes Brot an und er verschlang es, ohne es richtig zu schmecken.  

Die Frau behauptete, dass er sich ruhig bedienen konnte und so tat er es auch. In ein angenehmes Schweigen gehüllt, saßen die beiden für mehrere Minuten auf der Wiese, bis die Stimme der Frau leise ertönte und ihn etwas fragte, was er seit Jahren nicht mehr gehört hatte. “Wie geht es dir? Was beschäftigt dich gerade?” Aarian hob seinen Hals zu der dunklen Ewigkeit über ihm und zögerte für einen Moment, bevor er leise sprach: “Ist das Leben wirklich alles wert, was wir durchstehen müssen?”  

Die Frau blieb ruhig, blickte ihn jedoch interessiert an, als wartete sie darauf, dass er weiterredete. Ich kämpfe um mein Überleben, seit ich mein Land im Krieg verlassen habe, aber damals hatte ich noch meine Mutter. Ich hungere und friere Tag für Tag. Ich bin mir nicht einmal sicher, ob ich überhaupt noch atme”, seufzte Aarian. Er war sich bewusst, dass er mit einer völligen Fremden redete, aber vielleicht war dies die letzte Möglichkeit, die er je kriegen würde, um einer Person sein Herz auszuschütten.  

“Die meisten Leute würden jetzt sagen, dass nach jedem Sturm ein Regenbogen kommt”, murmelte er und die Fremde fragte: “Würdest du?” Aarian schüttelte den Kopf. “Seit Jahren warte ich auf meinen Regenbogen, aber seit ich klein war, gab es nur Regen und Stürme, die Stück für Stück mein Leben zerstörten.“Wo ist deine Familie?”, fragte die Frau ruhig. Aarian schluckte den Kl herunter, der sich in seinem Hals bildete, bevor er tonlos antwortete: “Mein Vater verließ mich als kleines Kind. Meine Mutter begleitete mich hierher, aber sie starb vor zwei Jahren.” Die Frau legte ihre Hand auf seine Schulter, doch er schüttelte sie sanft ab.  

Das Mitleid einer Fremden würde das Problem nicht lösen. Sie verfielen wieder in eine Stille bis Aarian die Frau kaum hörbar fragte, was sie vom Leben hielt. Die Fremde lächelte bevor sie sich zurücklehnte, um einen besseren Blick auf den Himmel zu haben. “Ich stimme den meisten Leuten zu. Auch wenn es momentan nicht so scheint, wird es besser werden. Den Wolken geht immer wieder der Regen aus. Ich bin mir sicher, dass du gleich eine Pause vom Regen kriegen wirst.” “Und was, wenn nicht? Was wenn das Leben mich nur weiter als Boxsack benutzt?”  

Vielleicht benebeln Regenwolken deine Gedanken zu sehr. Du solltest die Sonne durchlassen. Aarian legte den Kopf in die Hände. Das ist schwer, wenn man die Sonne seit Jahren nicht mehr gesehen hat.” Die Frau schwieg wieder. “Vielleicht musst du etwas gegen die Regenwolken deines Lebens unternehmen”, behauptete sie. “Sie können gut reden. Sie wachen auf und haben ein Dach über dem Kopf, etwas zu Essen im Kühlschrank und neuen Kleider im Schrank. Sie wissen nicht, wie es ist auf der Straße zu leben.” Die Frau schüttelte langsam den Kopf. “Das tue ich wirklich nicht. Aber ich weiß, dass es Hilfsorganisationen gibt für Leute wie dich. Den Schaden nach einem Sturm kann man am erfolgreichsten gemeinsam mit anderen Menschen beheben.”  

Aarians Miene verzog sich. “Sie würden mich nur wegschicken. Das tun alle.” “Du vertraust den Menschen nicht. Ich kann sehen weshalb, aber du darfst nicht vergessen, dass es noch immer gute Menschen gibt, die wirklich helfen wollen. Mit ihrer Hilfe könntest du wieder zu einem normalen Alltag finden und darauf vielleicht eine Zukunft bauen.” Aarian legte einen Arm um seine Knie. “Eine Zukunft?” Die Frau nickte. “Die Zukunft hält mehr bereit, wie es momentan scheinen mag.” Aarian legte seinen Kopf auf seine Knie und blickte auf das Gras unter ihm. “Was ist, wenn alles schief geht?”  

“Niemand weiß, was in der Zukunft passieren wird. Trotzdem gibt man sich immer Mühe weiterzumachen, weil man weiß, dass eines Tages alles besser sein wird. Eines Tages wirst du ein Haus haben, Freunde, eine Arbeit und vielleicht sogar eine Familie. Das Leben ist voller Überraschungen, die alles, was wir durchstehen müssen, wert sind. Manchmal regnet es für einige Tage, aber vielleicht folgt darauf eine Woche voll Sonne. Für dieses vielleicht, lohnt es sich zu leben.” “Ich werde aber niemals von der Straße wegkommen”, murmelte Aarian und die Frau lächelte. “Vielleicht doch.”  

Aarian schloss die Augen für einen Augenblick und stellte sich seine Zukunft vor. Er sah sich mit einem Hund in einem Garten spielen. Er sah sich mit einem Kleinkind im Arm auf dem Sofa sitzend. Er sah sich mit Freunden am Strand spielend. Doch das war alles nicht machbar. Oder vielleicht doch? Und auf einmal wollte er nichts mehr, als seine Zukunft endlich leben zu können. Er blinzelte einige Male, bevor er zur Frau neben ihm blickte. “Ich werde das Leben vermissen, wenn meine Zeit kommt.” Er wollte sich für die Diskussion mit ihr bedanken, jedoch störten im Hintergrund Sirenen und blaue Lichter die Ruhe der Nacht 

“Ich glaube es wäre besser, wenn wir nachsehen, was los ist”, behauptete die Frau und so folgten sie den blauen Lichtern der Krankenwagen. “Hier war ich vorhin. Eine Gruppe von Fremden hat mich zerschlagen”, murmelte Aarian. Sie stellten sich zu der kleinen Menge von Leuten, die sich bereits versammelt hatten und drängten nach vorne, um besser zu sehen, was los war. Die Bewohner aus den umliegenden Häusern lehnten sich aus den Fenstern hinaus, wie Geier auf das Drama lauernd.  

Als Aarian direkt vor dem Unfallort stehen blieb, konnte sein Gehirn nicht verarbeiten auf was er hinabblickte. Das Gesicht der Person auf der Trage, die gerade in den Krankenwagen gehoben wurde, war blutbedeckt, aber ihm trotzdem allzu vertraut. “Wer bist du?”, fragte Aarian nach einem Moment des Schockes und drehte sich zur Frau hinter ihm. Die Fremde seufzte. “Jeder lernt mich irgendwann kennen, entweder früher oder später. Bei dir war heute der Tag.” Ein Schauer lief über Aarians Rücken, als er endlich verstand, was passierte. “Sie sind der Tod.” Sie lächelte, antwortete jedoch nicht. “Wir müssen los,” meinte der Tod und streckte die Hand aus.  

Aarian erhaschte einen letzten Blick auf seinen leblosen Körper, bevor er die kalte Hand des Todes ergriff. “Ich vermisse das Leben.” 


 




Invialo: 12:02 Wed, 20 March 2024 by : Schneider Louana age : 15