Retour

Evers Louis


Tu mir das nicht an

Tu mir das nicht an

Schon wieder wurde ich zum Jagen geschickt. Der Rest meiner Familie war die letzten Tage über schon gewesen, weshalb ich jetzt leider an der Reihe war. Bis auf ein paar Vögel war es hier im Wald immerhin ruhig. Von einem Vogel wurde man aber leider nicht satt, und das Tier würde vom Gewehr sowieso zerfetzt werden.

Seit ein paar Stunden irrte ich schon umher. Eine kleine Pause auf dem Hochsitz, das Gewehr von Schnee und Eis befreien und weitergehen.  Ich wollte schon öfter ein Neues kaufen, aber solange Großvaters Nagant noch schoss, blieb sie im Einsatz, egal wie oft sie Reparaturen benötigte. Wahrscheinlich würde sie mich sogar überdauern.

Ich durfte mich nicht zu sehr ablenken lassen. Ich musste ein Tier finden, es erlegen und nach Hause zurückkehren. Das war mein Ziel, es waren etwa drei Stunden bis die Nacht einbrechen würde. Dann könnte ich die Jagd sofort vergessen.

Ich schlich weiter durch den Schnee, bis ich die Fußspuren eines Rehs fand. Oder eines Hirsches, beides wäre gut. Das bedeutete aber auch, dass ich tiefer in den Wald musste. Ich wollte noch einmal Wasser aus meiner Feldflasche trinken, aber natürlich war es gefroren.

Ich verfolgte die Spuren. Sobald ich das Tier sah, musste ich zum Schuss ansetzen. Wenn ich ein Reh schießen würde, hätten wir genug Essen für eine Woche. Ich musste es finden, auch wenn ich es nicht wollte. Aus welcher Entfernung würde ich mir den Schuss zutrauen? Rein theoretisch wären vierhundert Meter möglich. Ich wollte aber näher ran. Ungefähr zweihundert bis zweihundertfünfzig Meter vielleicht. Das sollte kein Problem sein. Oder? Wenn ich nur einmal verfehlen oder schlecht treffen würde, könnte ich mich auf eine nicht ganz so schöne Zeit zuhause vorbereiten. Aber zum Schuss würde es doch sowieso erst kommen, wenn ich eins finden würde, ich musste mir also keine Gedanken darüber machen.

Es war ein Reh. Ich hatte keine Ahnung, warum ich es nicht früher gesehen habe, aber jetzt war es ungefähr hundertfünfzig Meter vor mir. Aus irgendeinem Grund hatte es mich auch noch nicht bemerkt. Ich legte mich in den Schnee. Obwohl ich gute Kleidung anhatte, kam er trotzdem durch. Vor allem durch die Schuhe, meine Socken wurden schon nass. Aber solange ich nicht erfror, war das aber auch irrelevant. Eine Erkältung wird irgendwann besser, der Tod nicht.

 Ich nahm das Gewehr vom Rücken, zielte, und hielt die Luft an. Das Fadenkreuz positionierte ich auf den Kopf. Konnte dieses Tier nicht einfach weglaufen? Nein, es musste stehen bleiben. Wenn ich abdrücken würde, könnte ich sowieso nichts mehr tun. Ich hatte schon so viele Viecher getötet, warum konnte ich mich nicht dazu bringen, diesen verdammten Abzug zu betätigen? Ich musste es tun. Wie lächerlich wäre ich sonst. Aber musste ich wirklich... Ja. Natürlich.

Ich musste erneut ansetzen. Ich hatte zu lange gezögert, ich musste wieder atmen. Während ich nach Luft schnappte, sah das Tier mich. Trotzdem blieb es stehen. Viel länger durfte ich jetzt aber nicht mehr brauchen.

Zweiter Versuch. Ich wollte noch immer nicht abdrücken, aber ich musste es tun. Der Abzug war schon bis zum Widerstand gedrückt. Wenn ich jetzt ein bisschen weiter drücken würde, nur einen Millimeter weiter vielleicht, wäre ich fertig. Ich wollte nicht, trotzdem drückte ich weiter. Aber immer, wenn ich eine kleine Bewegung spürte, hoffte ich einfach nur, dass…

 Den Hebel zog ich nach hinten, dann drückte ich ihn sofort wieder nach vorne. Die Hülse flog in den Schnee, wo sie wahrscheinlich für eine lange Zeit bleiben würde, wahrscheinlich sogar so lange, bis dieser geschmolzen war.

Ich traute mich nicht, das Auge vom Visier zu entfernen. Solange ich den Kadaver nicht sah, gab es ihn nicht. Solange ich das eine Auge zuhielt und weiterhin durch das Visier schaute, war ich kein Mörder. Das Tier könnte weggelaufen sein, ohne dass ich es sah, aber das wollte ich nicht. Ich wollte es schon, aber auch nicht.  Wenn ich mich jetzt umdrehen und weggehen würde, wäre alles gut. Aber ich musste hinsehen.

Dieses elende Ding versuchte wieder aufzustehen, schaffte es aber nicht. Bitte steh einfach auf und geh weg. Tu mir das nicht an. Du dreckiges Viech. Lauf einfach weg. Verschwinde jetzt.

Aber das Reh blieb elendig im Schnee liegen. Hoffentlich verblutete es einfach bald. Ich konnte keinen zweiten Schuss verschwenden, wir hatten nur noch zehn. Vater würde mich umbringen.

Mit der Leuchtpistole schoss ich in den Himmel, damit Vater meine Position sehen konnte. Bald würde er mit dem Hundeschlitten kommen, um das Tier aufzuladen, und ich hätte für die nächsten Wochen frei. Hoffentlich, sicher war ich mir nicht.




Envoyé: 17:58 Tue, 19 March 2024 by : Evers Louis age : 15