Atgal

Harpes Anna


Schritte

Du musst nur immer weiterlaufen, so schnell du kannst. Dann kannst du unendlich leben. Du musst immer nur einen Schritt weitergehen. Immer und immer wieder. Blick nicht zurück, bleib niemals stehen. Nur dann hast du eine Chance. Eine Chance zu überleben. Hörst du? Du musst rennen. Vergiss alles um dich. Ignorier es. Du musst nur immer weiterkommen… du musst schließlich überleben… du musst...

Es klingt so dermaßen einfach immer weiterzugehen. Sich immer vorzunehmen, noch einen Schritt zu tun, wenn es auch der Letze ist. Doch sobald der Schmerz kommt, ist auch manchmal ein einziger Schritt zu schwer, um ihn zu bewältigen…

Ich sehe kaum mehr die Sonne, die so nah ist, dass ich die Hitze förmlich spüren kann. Ich sehe kaum mehr meine Füße und Arme, die versuchen Kraft zu sammeln zum nächsten Schritt.

Ich sehe nur noch Nebel. Alles ist verschwommen. Wie eine Fensterscheibe an einem eisigen Tag. Wie ein Schleier, der sich langsam auf meine Augen legt, bis der letzte Fetzen meiner Sicht verschwunden ist. Nur noch Dunkelheit dort ist. Ich versuche dagegen anzukämpfen. Dabei müsste ich doch Kraft sammeln für den nächsten Schritt.

Den Schritt, der alles wieder leichter machen würde. Der Schritt, der mich rettet vor dem was kommt, sobald ich aufhöre Schritte zu gehen. Mich zu bewegen.

Es ist, als würde die Welt für einen Augenblick stehenbleiben. Als würde sie mir einen letzten Atemzug schenken. Erbarmen hat, obwohl ich doch versagt habe. Obwohl ich doch nicht mehr renne. Überhaupt keinen Schritt mehr tue.

Doch bevor ich den Augenblick greifen kann, rückt die Zukunft wieder näher. Die Welt lässt mich zurück. Blind. Voller Schmerzen.

Seltsame Farben tänzeln vor meinen Augen.

Ich weiß, dass sie nicht real sind, und trotzdem will ich sie greifen. Ein allerletztes Mal, bevor sich die Dunkelheit endgültig legt. Dabei war mir nie bewusst, was Endgültigkeit überhaupt bedeutet. Bis zu diesem Augenblick. Ich blicke blicklos in die Ferne, spüre, dass es näherkommt, dass es keine Hoffnung mehr gibt. Das ich verloren bin. Doch ehe es mich erreicht, stürze ich in die Tiefe der Finsternis…

 

Viele Splitter. Überall um mich herum. Unbeweglich und doch unheimlich. Fast, als würden sie warten. Kleine Stücke von Spiegeln, doch sie spiegeln nicht was hier und jetzt ist. Sie spiegeln Szenen, die alle etwas in mir auslösen. Ich weiß nicht was. Ich weiß nicht wieso. Ich spüre nur die Tränen, die mir die Wangen hinunterlaufen oder den Gesichtsmuskel, der sich seltsam verzieht. Ich spüre einen Stich in meinem Körper. Dann Leere. Als würde etwas fehlen. Doch es ist sowieso klar. Etwas ist ganz und gar nicht in Ordnung.

Zögernd nähere ich mich einem der Splitter und erkenne… nichts. Licht, von irgendwoher macht es mir unmöglich zu sehen, was auf dem Spiegelstück drauf ist. Was ich so dringend sehen muss. Das Licht spiegelt sich wie eine kleine Sonne darin und ich kneife die Augen zu.

Dann weiche zurück und das Licht ist erneut verschwunden. Doch ich bin zu weit entfernt, um das Bild im Splitter zu deuten.

Keine Chance es zu erkennen, egal was ich tue.

Dabei muss ich es wissen. Ich muss. Dieser Wunsch übertönt jeden anderen Gedanken. Lässt sie nicht frei. Lässt nur noch Platz für den Wunsch, es zu sehen. Ich habe keine Kontrolle darüber. Ich weiß nicht einmal, wieso es so wichtig für mich ist, es zu sehen, was auch immer es ist.

Ich hebe die Hand. Halte sie in Richtung Splitter. Mein Arm ist gestreckt. Meine Finger zittern. Ich lehne mich nach vorne, strecke meine Hand nach dem Splitter auf.

Dann Erleichterung. Ich habe ihn. Metallisch. Glatt. Ich…

Ich falle.

Hindurch durch die Splitter unter mir.

Schmerzen.

Meine Hand drückt sich in den Splitter, den ich erreicht habe.

Ich halte ihn fest.

Die scharfe Kante bohrt sich in meine Hand.

Doch ich habe keine Angst vorm Fallen.

Schließlich kann ich es nun endlich sehen.

Was auf dem Splitter ist.

Meine Vergangenheit.

 

Licht. Wärme. Ein Luftzug, der schwach über mein Haar weht.

Die Welt hat mich zurückgenommen. Zurück zu sich. Doch der Splitter ist fort. Nicht länger in meiner Hand. Verschwunden.

Vielleicht habe ich es auch nur geträumt. Dann spielt es schließlich keine Rolle. Doch ich spüre den Schmerz in meiner Hand. Der Splitter war real.

Und doch spielt es keine Rolle. Ich bin hier. Ich bin lebendig. Ich kann erneut die Schritte anfangen. Diesmal werde ich nicht aufhören.

Ich blinzle und öffne die Augen.

Überall weiß.

Unter mir. Neben mir. Es fällt sogar auf mich herab. Und in jedem der kleinen runden weißen Flecken blitzt ein Licht auf. Fast wie kleine Kristalle. Ich greife danach, weil sie mich an die Splitter erinnern. An meinen seltsamen Traum, der Spuren hinterlassen hat.

Wo bin ich überhaupt? Was ist das hier?

Wie bin ich hierhergekommen?

„Hues de dat héieren?“

„Jo… looss eis hoffen datt dat nëmmen eng Eil war…“

Stimmen?

Was reden sie?

Doch soviel ich auch nachdenke, ich komme nicht darauf.

 

Überhaupt gibt es vieles über das ich mir Fragen stelle.

Wer bin ich?

Wo bin ich?

Wie bin ich hierher gekommen?

Was soll ich nun tun?

Bei einigen von diesen Fragen tauchen vage Bilder auf. Nicht wirklich greifbar. Nicht wirklich da. Doch ein Teil von mir.

Bei einigen weiß ich es überhaupt nicht. Da ist nur Leere.

Nichts mit dem sich das füllen ließe.

 

Hoffentlich ist es nur eine Frage der Zeit bis alles zurückkehrt. Bis ich wieder anfangen kann, Schritte zu gehen, weiß warum ich es tue.

„Wat ass dat?!“

Ein Aufschrei.

Zwei junge Mädchen stehen direkt vor mir.

„Keine Angst… ich… tue nichts… wisst ihr rein zufällig…“

Ich sehe die Angst in ihren Augen. Sehe wie weit sie aufgerissen sind. Ich sehe es in ihren Schritten als sie zurückweichen. Ich sehe es in ihren Mündern, die so weit geöffnet sind.

Ich unterbreche mich selbst und blicke sie freundlich an, lächle ein wenig.

„Ich bin…“

Wer bin ich denn nun? Ich weiß es nicht mehr so recht.

Ich lächle ein wenig.

„Mir sollten d'Madamm siche goen, vläicht kann hat… nach hëllefen…“

„Es ist alles in Ordnung… mir geht es gut, ich… kann ich mit euch kommen? Ich muss wissen wo ich hier bin…“

Ich stehe auf und mache den ersten Schritt in ihre Richtung.

Nein. Diesmal werde ich weitergehen.

Dieses Mal werde ich nicht mehr stehenbleiben. Schließlich sollte man zweite Chancen nutzen.

Die beiden Mädchen nicken sich zu, sehen immer noch etwas verängstigt in meine Richtung. Ich lächle und folge ihnen durch das Unbekannte.

Wir scheinen in einem Wald zu sein. Bäume ragen so hoch, dass man meinen könnte sie würden den Himmel berühren. Ich stampfe immer weiter. Den Blick auf die Baumwipfel gerichtet. Es klingt fast schon lustig. Der weiße Boden unter mir knackt.

Das Gehen ist luftig leicht. Mir ist überhaupt nicht klar wieso ich angehalten habe. Doch es spielt keine Rolle. Wenn das so weiter geht, werde ich nie wieder anhalten.

Die Schritte der Mädchen beschleunigen sich. Ich rase ihnen hinterher. Offenbar haben sie es eilig.

„Wie heißt ihr eigentlich?“, frage ich neugierig und hoffe, dass sie mich verstehen. Doch niemand von ihnen reagiert. Doch der Wind ist schließlich laut. Da ist das kein Wunder. Ich warte bis wir angekommen sind.

 

Und da. Auf einen Schlag. Das Ende des Waldes. Der Beginn von großen rechteckigen grauen Dingern, die sich allesamt vor mir auftürmen. Fast schon erschreckend. Wachsam. Als wollten sie nicht, dass ich komme. Und doch wirken sie so leer. Als hätte jemand ihnen das Leben ausgehaucht. Ich schlucke. Zum Glück bin ich keiner dieser Quader. Zum Glück bin ich am Leben.




Pateikta: 22:58 Sun, 24 March 2024 by : Harpes Anna age : 16