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Mahr Anouk

Die Legende der Schwestern




In einem fernen Königreich lebten einst zwei Schwestern. Ihre Geschichte ist nur aus Überlieferungen bekannt, weshalb heute nicht mehr genau gewusst ist, wie sie tatsächlich hießen. Man nannte sie Gut und Böse, Tag und Nacht, Plus und Minus. Keiner dieser Namen stimmte wirklich, keine Bezeichnung konnte sie wirklich definieren. Weil wir für die Erzählung ihrer Geschichte aber Namen brauchen, nennen wir sie einfach Charis und Atychia; zwei alte Wörter, die man unter anderem auch jeweils mit „Glück“ und „Unglück“ übersetzen kann.
Die Geschwister waren damals nicht nur irgendwelche Schwestern. Sie stammten von dem früheren König ab. Niemand wusste so richtig, wie seine Herrschaft zu Ende gegangen war, jedenfalls sollten die Schwestern eines Tages den Thron besteigen. Das Reich trug den Namen „Macrolophos“, der ihm aufgrund seiner weiten Hügel gegeben worden war. Es war ein Ort, der von der Welt abgeschnitten war, der nirgends in der wahren Geschichte der Menschheit auch nur erwähnt wurde. Ein Ort, an dem Gut und Böse streng getrennt waren und niemals miteinander in Berührung kommen durften.
Charis und Atychia liebten einander abgöttisch. Jede von ihnen hätte, ohne zu zögern, alles für die andere getan. Ihre Liebe zueinander war bedingungslos, und eigentlich sollte ihnen nichts im Weg stehen, jede freie Minute gemeinsam zu verbringen und hingebungsvoll für das Wohl ihres Volkes zu sorgen.
Doch es sollte nicht so kommen.
Die rote Furche zwischen Gut und Schlecht spaltete auch ihre Familie und sollte für immer eine unüberwindbare Mauer darstellen, die die Schwestern voneinander trennte. Gesteuert von einer höheren Macht, war von Anfang an festgelegt, wer der guten und wer der bösen Spalte angehörte, und man konnte nichts tun, um etwas an dieser göttlichen Entscheidung zu ändern.
Charis war das Ebenbild des Guten. Ihre Energie wirkte anziehend auf andere. Alles, was sie tat, kam gut an. Jeder, der in ihre Nähe kam, wurde von einem plötzlichen Glücksgefühl befallen. Es war ihr möglich, jeden von allem zu überzeugen, das ihr in den Kopf kam. Auch die Natur und das Wetter waren auf ihrer Seite. Überall, wo sie war, schien die Sonne, glitzerten die Sterne, strahlte der Himmel in vollkommener Klarheit. Die Luft schmeckte immer frisch, und ständig fuhr ihr der Wind schmeichelnd durch die Haare. Bekannt war sie als die gute Prinzessin, das liebenswürdige, hübsche Herz der Nation. Charis´ Aussehen war nicht dokumentiert, ebenso wenig wie das von Atychia, aber natürlich existieren unzählige Vorstellungen von ihr. Die einen sagen, sie hätte blondes, wallendes Engelshaar gehabt, strahlend blaue Augen und eine Haut wie reines Porzellan. Andere stellen sie sich mit glänzender, dunkler Haarpracht vor, mit grünen Augen und einem dunklen Teint, der wundervoll mit ihren Haaren harmonierte. Es war auch egal, wie sie letztendlich ausgesehen hatte; allgemein war wohl bekannt, dass ihre Liebenswürdigkeit von innen nach außen strahlte und sie frei von jeglichen Makeln war.
Atychia sollte das genaue Gegenteil von ihrer Schwester darstellen. Auch bei ihrer körperlichen Erscheinung gehen die Meinungen auseinander, aber die vorherrschende Meinung ist, dass sie langes, zerzaustes, schwarzes Haar hatte und Gesichtszüge, die sogar ohne irgendwelchen Ausdruck grimmig aussahen. Ihre Energie wirkte stark abstoßend. Sie wurde für jedes Verbrechen beschuldigt, hinter jeder guten Tat ihrerseits wurde eine hinterhältige Absicht gesehen. Sie löste bei ihren Mitmenschen ein unwohles Gefühl aus, ihre Mägen zogen sich zusammen, noch bevor Atychia in Sichtweite kam. Sie erwischte immer die kältesten Luftzüge, die stärksten Windstöße, die sie sogar manchmal von den Füßen fegten. Außerdem schüttete sich jede Regenwolke über ihr aus, jeder aufkommende Nebel wurde von ihr angezogen, jede Wärme entzog sich ihr, um ihre Schwester in einen schützenden Mantel zu hüllen, während sie im kalten Regen stehen blieb.
Nicht nur Atychia hatte die Natur so übel mitgespielt. Auch Menschen aus dem Volk wurden gezwungen, diese Bürde zu tragen. Die Energien verteilten sich scheinbar mechanisch bei den Geburten auf die Menschen. Jeder Fünfte wurde negativ. Jeder Fünfte war zu einem abgeschiedenen Leben am Rande der Gesellschaft verdammt.
Man könnte vielleicht auf die Idee kommen, dass die Energien sich aufhoben, wenn Positive und Negative aufeinander trafen. Doch so war es nicht. Die Entscheidung, wer gut und wer böse war, folgte keinem physikalischen Gesetz. Höhere Mächte verteilten die Energien willkürlich. Und so war auch von Anfang an entschieden, dass die Negativen abstoßend auf die anderen Menschen wirkten. Ruhige Zusammentreffen der Schwestern waren ihnen von der Natur nicht vergönnt worden. Kamen die Energien miteinander in Berührung, konnte man kaum von einem Händeschütteln sprechen. Nicht mal annähernd von einem handfesten Streit. Sie konnten nicht nebeneinander existieren wie zwei Erwachsene, die sich nur mit Mühe ertrugen. Die Energien folgten auch nicht den Regeln, die für die Menschenwelt gedacht waren. Auch vermischten sie sich nicht. Sie prallten aufeinander wie zwei Feinde im Kampf, und das Donnergrollen war bis in die Ferne zu hören. Gewitter explodierten über den Köpfen der Schwestern, Dunkelheit legte sich über sie, Kälte kroch in ihre Kleider und Regen prasselte unbarmherzig auf sie herab. Heftige Windstöße wüteten um sie herum, rissen gewaltsam an ihren Haaren und Kleidern.
Doch, wie schon gesagt, liebten Charis und Atychia einander bedingungslos. Sie wollten diese Bestimmung nicht akzeptieren, nahmen ihr Schicksal nicht an. Entgegen der Rolle, die Atychia spielen sollte, untypisch für den Ruf der Kaste, in die sie geboren worden war, war auch sie ein herzensguter, barmherziger Mensch. Sie sorgte sich ebenso um ihr Volk wie Charis, machte sich genauso viele Gedanken, arbeitete Nächte durch, um ihren Untertanen das Leben zu erleichtern.
Allerdings sahen die wenigsten Atychia als ihre Königin, nicht mal als die Schwester ihrer Königin. Für die positive Bevölkerung war sie nur eine weitere Negative, der man aus dem Weg gehen sollte, die sich nicht im Zentrum aufhalten und den Guten ihre sorgenfreien Gedanken entziehen sollte. Was man ihnen kaum verdenken konnte, weil die von Atychia ausgelöste Beklemmung kein angenehmes Gefühl war.
Und so lebten Atychia und ihre negativen Untertanen abgeschieden von den anderen in Hütten. Tag für Nacht sorgte die dunkle Prinzessin für sie, half beim Bau von weiteren Häusern, brachte den andere Dinge bei. Gesprochen wurde nicht viel. Obwohl sie alle dieselbe Energie teilten, wirkten sie trotzdem noch abstoßend aufeinander. Aber diese Konstellation wurde von der Natur genehmigt. Und weil sie sonst niemanden hatten, akzeptierten sie die Gesellschaft der anderen Leidtragenden.
Diese Form der Gesellschaft hatte schon immer in Macrolophos existiert und funktionierte auch zur Zeit der Schwestern noch einwandfrei, zumindest für die Positiven. Alle waren freundlich zueinander, niemand wurde verurteilt, niemand beging Verbrechen. Die Guten waren glücklich und zufrieden, solange Charis sie mit ihrer reinen Energie umsorgte, die nichts und niemand trüben konnte. Und solange die Negativen sich nicht in ihrer Mitte aufhielten, denn sie konnten schlechte Gefühle freisetzen, die zu einer unaufhaltbaren Kettenreaktion führen konnten. Solange die Negativen das Leid der Menschheit trugen und nicht in die Mitte der Positiven brachten, war die Welt im Gleichgewicht.
Schon als kleines Kind war Atychia von Charis ferngehalten worden; jemand Negatives hatte ihr als Mutter und Lehrerin zugleich gedient. Schon als Kleinkinder wurden die Negativen aus der Stadt gebracht, um die Menschheit nicht zu gefährden.
Die Frau, die Atychia aufgezogen hatte, nennen wir sie Kakia, hatte ihren Schützling schon sehr früh darüber aufgeklärt, wie es in der Welt lief. Und von Anfang an hatte Atychia etwas dagegen tun wollen. Sie fand es nicht fair, dass von Geburt an festgelegt war, ob man akzeptiert oder abgewiesen wurde. Stattdessen war sie der Meinung, dass die Menschen eine Chance haben sollten, sich zu beweisen, damit sie sich ihr Schicksal verdienen konnten. Kakia hatte ihr nicht die Hoffnung nehmen wollen, aber sie wollte auch, dass Atychia verstand, dass dies nicht möglich war.
„Gegen die höheren Mächte sind wir machtlos“, sagte sie immer wieder sanft. Atychia spürte Wut, Beklemmung und Gekränktheit in ihrem Bauch, doch gleichzeitig wusste sie, dass sie auf ihre Gefühle nicht hören durfte. Kakia konnte nichts für die Energie, die sie aussandte.
„Wenn es möglich ist, die Menschen auf so klare und unumgängliche Art aufzuteilen, dann ist es auch möglich, dieses Muster aufzubrechen“, sprach sie aus Überzeugung.
Geführt von ihrer Liebe zueinander, trafen sich die Schwestern regelmäßig nachts und fernab von der Gesellschaft, um niemanden zu gefährden. Sie nahmen die Stürme, Gewitter und Kälte auf sich, um einander in die Arme schließen zu können. Atychia sprach sehr oft über die Verbesserung, die sie in ihrer zerbrochenen Welt vornehmen wollte.
„In dieser Welt hier gibt es keine schlechten Menschen“, sprach sie in Überzeugung. „Alle sind gut, und deshalb sollten auch alle akzeptiert werden.“
Charis gab ihr Recht, aber sie hatte auch etwas einzuwenden. „Die höheren Mächte halten uns in unseren Mustern. Wenn diese sich lösen, was wäre dann? Wie wären wir? Vielleicht würden die Menschen schlecht werden, wenn sie die Freiheit dazu hätten.“
Atychia verspürte ein wohliges Gefühl, und sie musste sich zwingen, ihrer Schwester Unrecht zu geben und ihrer einlullenden Energie zu widerstehen. „Die Menschen mögen nicht schlecht sein“, meinte sie, „aber trotzdem werden Verbrechen ausgeübt. Es ist ein Verbrechen, dass die Negativen am Rande der Gesellschaft leben müssen. Es ist ein Verbrechen, dass sie unglücklich sein müssen, dass ihnen immer kalt ist, dass sie immer im Regen stehen und von allen gehasst werden.“
„Ich hasse dich nicht“, rief Charis aus und umarmte Atychia, während das Wasser an ihrem Rücken herunterlief. Es war ein ungewöhnliches Gefühl für die gute Prinzessin. „Ich würde dir so gerne helfen, aber ich weiß nicht, wie. Du hast schon Recht, mit den Verbrechen.“  Auch Charis musste sich gegen die Energie ihrer Schwester wehren. Doch zum Glück war die Liebe stärker, und so konnten die beiden ohne großen Schwierigkeiten miteinander reden und ihre jeweiligen Standpunkte verteidigen. 
Ebenso wie Atychia zerbrach Charis sich den Kopf über eine Lösung, wenngleich Charis immer wieder Zweifel kamen, ob die Zerstörung der Energien wirklich eine so gute Idee war. Sie wusste einfach nicht, was die Menschen alles tun könnten, wenn sie frei wären. Welche Verbrechen sie freiwillig verüben würden, wenn keine Macht mehr über ihnen schwebte, die sie davon abhielt, immer mehr zu wollen. Doch jedes Mal erinnerte sie sich wieder an das Schicksal der Negativen und entschied für sich, dass sie dieser Ungerechtigkeit entgegenwirken mussten.
Da Charis ihrem Volk als Königin vorstand, war ihre Energie sehr stark, ebenso stark, wie Atychias Energie über den Negativen lag. Es war nicht möglich, dass Charis´ Schwester zu ihr ins Schloss zog. Zum einen würde dann ein unendliches Gewitter über dem Königreich wüten. Zum anderen würden die Energien sich nicht aufheben. Die Negativen würden trotzdem wie Aussätzige behandelt werden. Es war nicht eindeutig entschieden, welche der Energien stärker war, und ob die Positiven mit ständigem Kontakt zu den anderen tatsächlich unglücklich werden sollten. Aber die Angst davor war so stark, dass der Versuch mit Aussicht auf Erfolg nicht umgesetzt werden konnte.
„Unsere Energien können sich nicht außerhalb von uns miteinander vermischen“, sagte Atychia, „also müssen wir sie in unserem Inneren vereinen. Vielleicht heben sie sich dort gegenseitig auf.“
„Das wissen wir nicht sicher“, widersprach Charis zweifelnd. „Vielleicht würde es uns auch zerstören.“
„Ich glaube nicht, dass es dich zerstören würde. Ich glaube, dass die Energien unzerstörbar sind, alle beide, aber dass die Menschen einen natürlichen Hang zur positiven Energie haben. Deshalb bin ich der Meinung, dass meine Energie dich befreien würde, du aber weiterhin ein guter und glücklicher Mensch sein könntest.“
„Ich verstehe nicht, was du meinst“, antwortete Charis. „Wie soll ich deine Energie in mir vereinen? Wie soll das möglich sein?“
„Die negative Energie basiert auf dem Bösen. Den Negativen werden Verbrechen nachgesagt, sie lösen unangenehme Gefühle aus, als hätten sie wirklich Verbrechen begangen. So, als hätte alles mit einem schlimmen Verbrechen begonnen“, erklärte Atychia. „Wenn nun ein Positiver ein Verbrechen ausüben würde, das sich zum Teil auch gegen ihn selbst richtet?“ Auf ihrem Gesicht hatte sich ein sehr eigenartiger Gesichtsausdruck geformt.
„Was willst du damit sagen?“, fragte Charis. Sie kam nicht umhin, sich zu fragen, was ihre Schwester vorhatte, was das für ein Verbrechen wäre, das sie verüben sollte und das sich zum Teil gegen sie selbst, Charis, richtete. Plötzlich spürte sie, wie ihr Magen sich zusammenzog. Und diesmal war sie überzeugt, dass es nicht an Atychias Energie lag. Dass sie selbst dafür verantwortlich war. Aber wie war das möglich?
„Ich sehe“, meinte Atychia bedächtig. „Deine Liebe zu mir ist stärker als die Energie. So könnte es funktionieren.“
„Wie?“, flüsterte Charis.
„Einzig deine Liebe zu mir kann die Energien zerstören. Weil sie stärker ist. Weil sie das einzige ist, das stark genug ist.“  Atychia legte eine Hand auf die Schulter ihrer Schwester und sah sie liebevoll an, während um sie herum die Welt unterzugehen drohte. „Ich weiß, was wir tun könnten. Ich weiß, wie wir die Liebe einsetzen könnten, um die Ungerechtigkeit der Energien ein für alle Mal zu beenden.“  Sie flüsterte: „Treffen wir uns morgen um Mitternacht. Bei dir im Schloss.“
Mit diesen Worten verließ sie ihre Schwester und verschwand in der Dunkelheit. Charis blieb alleine zurück und nahm fast nicht zur Kenntnis, wie der Regen ihrer Schwester folgte, das Gewitter sich verzog und die Sterne wieder zu funkeln begannen.
Sorgenvoll wartete sie in der nächsten Nacht in ihrem prachtvollen Zimmer auf Atychias Erscheinen. Sie hatte Angst, was passieren würde, wenn Atychia den Raum betrat. Vielleicht wachten die Positiven auf, wenn sie an ihren Häusern vorbeischritt, oder gerieten in Albträume. Was würde passieren, wenn Atychia sich in die Mitte der Positiven wagte? Unter anderen Umständen hätte Charis versucht, ihre Schwester von der Idee abzubringen. Aber in Atychias Tonfall hatte etwas Eigenartiges, Eindringliches mitgeschwungen, das es Charis unmöglich machte, nein zu sagen.
Und so hörte sie, wie ein Donnergrollen aufzog, sah den Regen an ihre Fensterscheiben peitschen und spürte die Anwesenheit ihrer Schwester, noch bevor sie den Raum betrat.
Atychia spürte einen Schmerz, der ihre Brust zu sprengen drohte. Die Positiven waren ihr zahlenmäßig weit überlegen, und ihre Energien vereinten sich und wirkten gegen ihre, selbst wenn sie zurzeit alle schliefen.
„Was hast du vor?“, flüsterte Charis angstvoll, die am Ende des Zimmers auf ihrem großen Bett saß.
„Hör mir gut zu“, meinte Atychia. „Du musst meine Energie jetzt in deinem Inneren vereinen, wie ich es gesagt habe. Da du eine so große Macht über unser Volk hast, wird diese neue, aber neutrale Art von Energie sich auf sie übertragen und sie alle befreien. Sie werden ab heute endlich fähig sein, eigene Gefühle zu spüren und eigene Entscheidungen zu treffen. Die Negativen wie die Positiven. Und du, meine liebe Schwester, wirst ihnen dabei helfen, die richtigen Entscheidungen zu treffen. Ich verspreche dir, dass du auch hinterher ein guter Mensch sein wirst, selbst nachdem du meine Energie aufgenommen hast.“  Während ihres Monologes stiegen Atychia Tränen in die Augen. Sie dachte daran, was Charis würde tun müssen, was sie selbst würde geschehen lassen müssen. Aber sie war überzeugt davon, dass es funktionieren würde. Und dass sie damit den Menschen helfen konnte, den Positiven wie den Negativen. Es durfte keine Grenze mehr zwischen ihnen geben, es durfte keine Einteilung in positiv und negativ mehr geben, es durfte keine Ungerechtigkeit mehr geben. Alle sollten ein Recht darauf haben, glücklich zu sein. Und Atychia war bereit, das Risiko einzugehen, das sich daraus ergab. Ihre Schwester würde über den freien Entscheidungen der Menschen wachen. Das wusste sie.
„Was müssen wir tun? Was muss ich tun?“ 
Charis hatte große Angst, aber ebenso wie ihre Schwester sah sie ein, dass es die Pflicht der beiden war, die Ungerechtigkeiten auszuräumen. Alleine schon, weil es Atychia zufolge tatsächlich in ihrer Macht stand.
Atychia zog einen Dolch hervor. „Du musst mich töten“, sprach sie. 
Charis blieb die Luft weg. „Nein, das kann ich nicht tun“, wisperte sie.
„Ich bin davon überzeugt, dass meine Energie sich auf dich übertragen wird, wenn ich sterbe. Weil du mich so sehr liebst, gibst du einen Teil von dir auf, und indem du mich tötest, wird sich ein Teil von mir auf dich übertragen. Du wirst etwas Böses in dir haben, das stark genug sein wird, um die Energie in deinem Inneren aufzuheben. Und ich muss gehen, weil die Energien sich in einem einzigen Körper vereinen müssen. Sie dürfen sich nicht aufteilen.“  Atychia holte tief Luft. „Du musst mich töten.“
Charis wollte es nicht tun. Sie war nicht bereit, ihre Schwester aufzugeben. Warum sollte sie ihre Schwester für die Menschheit opfern? Wenn sie ihre Schwester tötete, würde sie auch einen Teil von sich selbst töten; der Teil, der sie ausmachte, würde ebenfalls sterben, und eine ganz neue Charis würde geboren werden. Wenn hinterher überhaupt noch etwas von ihr übrig sein würde.
Und vielleicht würde es doch nicht funktionieren. Vielleicht würde die Tat von den höheren Mächten gar nicht als Verbrechen angesehen werden, weil ihre Energie sich wie ein Dunstschleier über alles legte.
Aber tief im Inneren wusste Charis auch, dass Atychia Recht haben musste. Sie selbst würde den Mord an ihrer geliebten Schwester immer als schreckliches Verbrechen ansehen, und weil ihre Liebe so stark war, würde die Energie nicht mehr länger Macht über sie haben. Und da Charis mit ihrem Volk verbunden war, würden die anderen Menschen auch alle neutralisiert werden. Wenn sie Atychia in sich aufnahm, hätte sie folglich auch die Verbindung zu den Negativen.
Am nächsten Morgen würden alle als andere Menschen aufwachen, Menschen, die die Chance hatten, sich zu beweisen.
Außer Atychia. Sie würde nicht aufwachen. Ihre liebe Schwester hatte nie die Chance gehabt, sich zu beweisen, und sie würde sie auch nie haben. Sie war so gut und selbstlos, dass sie das wertvollste Geschenk, das sie hätte kriegen können, aufgab, um es allen anderen Menschen zu geben.
Charis war nicht mehr sie selbst, als sie Atychia den Dolch aus der Hand nahm, ihre Schwester schluchzend umarmte und sie dann erstach. Die Blicke der Schwestern, die sich einst so geliebt hatten, badeten ineinander, bis schließlich Atychias Blick brach, die seinerzeit so unverrückbaren Grenzen verblassten und die Schwestern, wie es sie einst gegeben hatte, starben.




Envoyé: 07:58 Tue, 29 March 2016 par: Mahr Anouk