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Henriquez Laura

Ein Familiengeheimnis




Ich atmete tief ein und strich mir eine Haarsträhne aus dem Gesicht. Mein Herz klopfte bis zum Hals und hastig schaute ich mich um.

Langsam streckte ich meine Hand in Richtung des Holzkästchens im Geheimfach aus. Zaghaft berührten meine Fingerspitzen das glatt polierte Holz und ich bewunderte die schimmernde Oberfläche. Ich fuhr mit dem Finger die Verzierungen nach, strich über die eingravierten Blätter und Muster.

Endlich, endlich hatte ich in Händen, was Vater so sehr vor mir geheim hatte halten wollen!
Lautes Lachen und Grölen von den Festlichkeiten drangen zu mir hinauf und meine Hand zuckte zurück. Langsam atmete ich wieder aus und versuchte die Angst aus meinem Kopf und meinem Körper zu verbannen. Vater hatte mir schon als kleines Mädchen eingebläut, mich von dem Kästchen fern zu halten. Anfangs hatte ich diesen Rat brav befolgt, doch mit den Jahren war die Neugier immer größer geworden und nun sehnte ich mich geradezu danach, diese Kiste zu öffnen und hinein zu schauen. Heraus zu finden, was Vater so sehr verändert hatte.

Ich erinnerte mich vage an Zeiten, in denen wir unbeschwert gelebt hatten und nichts gefürchtet hatten.

Doch die waren schon lange vorbei.

Er hatte dieses Kästchen von einer Fremden bekommen. Wir, mein Vater, meine kleine Schwester und ich, waren auf dem Markt gewesen und wollten einige Dinge verkaufen, um an Geld zu kommen. Eine Fremde war an unseren Stand getreten, hatte meinem Vater diese Kiste in die Hand gedrückt und zu ihm gesagt: „Verwahre sie gut. Sie wird es brauchen!“ Die Fremde hatte sich dann zu mir gewandt und mich unverwandt angestarrt. Mira hatte sich ängstlich an Vaters Hand geklammert. Unbehaglich hatte ich mich unter ihrem forschenden, suchenden Blick gewunden. Dann, als habe sie gefunden, was sie suchte, lächelte sie mich sanft und zufrieden an, drehte sich um, und verschwand in der Menschenmasse.

Wir waren sofort nach ihrem Verschwinden überstürzt aufgebrochen, uns war kaum Zeit geblieben, alles auf den Wagen zu laden. Vater hatte sich andauernd gehetzt um geblickt und fuhr sofort los, kaum dass wir einigermaßen auf dem Wagen standen. Zu Hause angekommen rannte er ins Haus und versteckte das Kästchen. Er wurde von Tag zu Tag ängstlicher, verbot mir, in die Öffentlichkeit zu gehen und ich durfte nur auf dem Grundstück, auf dem unser Bauerngehöft lag, manchmal frische Luft schnappen. Er trank immer öfter, kam abends spät nach Hause und ließ sich mit seltsamen Gestalten ein.

Damals hatte ich mich nicht weiter um diese Begegnung gesorgt, doch im Nachhinein kam mir das Verhalten meines Vaters mehr als seltsam vor. Nach und nach hatte ich den Ort herausgefunden, an dem er die Schatulle auf bewahrte und hatte sogar versucht, sie zu öffnen, doch er hatte mich entdeckt und sie an einen anderen Ort gebracht.

Und nun war es endlich soweit! Ich kniete mich hin und setzte das Kästchen auf den Schoß, strich ein letztes Mal über den Deckel und klappte dann das Scharnier auf.

Langsam hob ich den Deckel an.

 




Envoyé: 14:50 Tue, 8 March 2016 par: Henriquez Laura