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Kutzner Tessy

Hoffnungsschimmer - Nadesha Kirana




Nadesha … lausche den Erzählungen. 

Mit pochendem Herzen erwachte die junge Frau aus ihrem Traum und musste ihren Atem erst einmal wiederfinden. Seit einiger Zeit träumte sie seltsame Dinge und hatte oft das Gefühl, dass sie nicht sie selbst war. Doch, sobald sie erwacht war, fiel es ihr unsäglich schwer sich an den Traum zu erinnern. Zu blass war die Erinnerung daran. 

Sie wusste nur, dass sie einem wunderschönen Tier nachgelaufen war, ihm auch einen Namen zugerufen hatte, doch genaueres konnte sie nicht mehr sagen. Ihr war es auch, als hätte jemand ihren Namen gerufen, aber ob es nur ein Gefühl war, konnte sie nicht sagen. Sie schloss wieder ihre Augen und versuchte sich an den gerufenen Namen zu erinnern, doch es gelang ihr einfach nicht. Vielleicht sollte es einfach nicht sein. Ein leichter Schmerz entfachte in ihrer Schläfe und sie ließ die Gedanken deshalb schnell wieder ruhen. 

Seufzend rieb sie sich über ihr Gesicht und setze sich dann schlussendlich auf. Die Müdigkeit war ihr nun vollends aus den Knochen gewichen und das einzige, was sie jetzt noch spürte, war das klebrige Gefühl des Schweißes auf der Haut. Sie war sich absolut sicher, dass sie nur im Traum gelaufen war, doch das Träumen schien in letzter Zeit immer realer zu werden. 

Mit einem gekonnten Griff knipste sie ihre Nachttischlampe an, rieb sich noch einmal über die Augen und sah, dass ihr Bett wieder völlig zerwühlt aussah. Die Decke lag halb auf dem Boden, zerknüllt und völlig nutzlos erscheinend. Ihre Kleidung hing auch nur noch lose an ihr und sie saß halbnackt auf ihrem Bett. 

Ihr Blick ging kurz durch ihr Zimmer und sie sah heruntergeworfene Sachen, darunter erkannte sie ihren Wecker, ein Medikamentendöschen und eine Packung Taschentücher. Seufzend blickte sie auf die nun lose daliegenden Pillen und strich sich das schweißnasse Haar aus der Stirn. Der Tag hätte sicherlich besser anfangen können … 

Schlurfend durchquerte sie ihr Zimmer und öffnete die Schlafzimmertür, zupfte an ihrer Nachtkleidung herum und ging in den Flur. Flackernd ging das Licht an und knisterte drohend, aber nach einem strengen Blick von ihr hörte es sofort wieder auf. Plötzlich ertönte hingegen ein leises Poltern, gefolgt von einem ebenso leisen Kichern und sie zuckte leicht zusammen. 

„Was zum …“, nuschelte sie und blieb einige Zeit stehen. 

Nachdem aber nichts mehr dem Geräusch folgte, ging sie schulterzuckend weiter und öffnete die allbekannte Badezimmertür, suchte nach dem Lichtschalter und seufzte genervt auf.

Seit einigen Tagen hatten die Glühbirnen in ihrem Haus starke Probleme länger als ein paar Stunden durchzuhalten. Sie war langsam genervt davon, weil sie sicherlich das dritte oder vierte Mal die Birne im Badezimmer gewechselt hatte, dabei gab es nur eine einzige, die ihr lichtspendend den Weg zeigte. 

Doch mit einem lauten Knall hatte sie ihr den Dienst verwehrt und ließ die junge Frau im Halbdunkeln zurück. Genervt plusterte sie deshalb ihre Wangen auf, drückte fester als gewollt auf den Lichtschalter und ging zu einem kleinen Vorratsschrank, den sie im Flur stehen hatte. Schnell fand sie, was sie suchte und wollte die Glühbirne sofort wechseln, als sie plötzlich wieder ein leises Kichern vernahm. Dieses Mal erschien es lauter und näher zu sein und sie blickte sich deshalb fragend um. 

Das Licht im Flur fing nun auch an zu flackern und sie blickte wieder einmal streng dahin, doch dieses Mal half es nicht und das Licht erlosch mit einem Knall. Wütend stapfte sie zu ihrem Zimmer, weil sie nur noch zwei neue Glühbirnen im Haus hatte und ohne Licht nicht sehr viel sah. Als sie am Lichtschalter vorbeiging, knipste sie ihn schnell wieder aus und suchte in ihrem Zimmer nach der Taschenlampe, die sie sich, wohlwissend dass die Lichter jeden Moment ausgehen könnten, gekauft hatte. 

Gerade als sie den Griff der Taschenlampe erblickte, hörte sie wieder das leise Kichern, dieses Mal gepaart mit einem leichten Quietschen, das nicht sehr weit hinter ihr zu sein schien.

Sie spürte, wie ihr Herz langsam schneller pochte und drehte sich, bewaffnet mit der Taschenlampe, um. Ihre Nerven waren gespannt wie Drahtseile und ihr Blut rauschte in ihren Ohren, da sie sich auf alles gefasst machte. 

Mit einem Schrei machte sie ihrer Überraschung kund und das Wesen, das fröhlich auf ihrem Bett hoch und runtergehüpft war, ließ sich nicht davon abbringen. Sie blinzelte einige Male, weil das Wesen sie nicht zu bemerken schien und ging einige Schritte auf es zu. Langsam, da sie Angst hatte, dass sie davon angegriffen werden könnte. Ihr Herz schlug ihr schmerzhaft in der Brust und sie hoffte, dass alles gut ausging. 

Kichernd hüpfte das Wesen, das sie gerade schwer erkennen konnte, weil es in Bewegung war, hoch und runter und schien sie noch immer nicht bemerkt zu haben. Langsam löste sich ihre Anspannung und sie fühlte sich nun eher verarscht. Sie stemmte ihre Fäuste in die Seiten und räusperte sich lautstark. Mit einem strengen Blick fixierte sie das hüpfende Wesen und wartete auf eine Reaktion. 

Diese blieb aber immer noch aus. Die junge Frau hielt ihren Atem kurz an, doch als eine weitere Reaktion ausblieb, wurde sie leicht wütend: „Sag mal, hast du sie noch alle?!“ Ihr platzte der Kragen und sie griff nach dem kleinen Wesen. 

Endlich hatte es sie bemerkt und quietschte laut auf. Mit einem zischenden Geräusch verschwand es und sie öffnete ihre Hand schreiend. Tippelnde Geräusche waren zu hören und die junge Frau hielt sich ihr vor Schreck schnell schlagendes Herz. Quietschend hatte das Wesen sich hinter dem Mülleimer versteckt und schien aufzutauchen, nur um kurz darauf wieder zu verschwinden. 

Nachdem der erste Schreck verdaut war, ließ sie ihre Hand, die noch immer griffbereit war, sinken und versuchte sich das Wesen genauer anzuschauen. Es war schwer es zu beschreiben, weil sie es immer noch nicht gänzlich sah, aber ihr fiel auf, dass es Ohren und einen Schweif hatte. Das Gesicht wirkte wie das eines katzenartigen Wesens, doch sicher war sie sich nicht. Der Körper erschien schlank, aber viel konnte sie halt davon nicht erkennen. 

Sie räusperte sich, als sie spürte, wie ihre eigentlich ruhige Art zurückkam. Sie blieb zwar auf der Stelle stehen, aber beugte sich etwas hinunter, damit sie nicht mehr so groß erschien. Ihr Mülleimer war vielleicht einen halben Meter hoch und das Wesen überragte ihn nur um eine halbe Kopfgröße. Sie öffnete den Mund, um etwas zu sagen, doch es kam zuerst nichts über ihre Lippen. 

„Wieso seht Ihr mich jetzt schon …“, hörte sie die leicht nasale, genuschelte Frage, die aber auch einem Miauen oder Maunzen glich. 

Erstaunt blinzelte sie deswegen und beugte sich noch etwas weiter hinab und lag damit halb auf dem Boden. Sie kam sich zwar etwas dämlich dabei vor, aber so konnte sie dem kleinen katzenartigen Wesen besser in die scheuen Augen schauen. 

„Ich weiß es nicht, aber müsste die Frage nicht eher lauten: was machst du hier?“ Ihre Frage war etwas forsch, aber sie wollte es wissen und so fügte sie noch schnell hinzu: „Und was bist du?“ 

Das kleine Wesen blieb hinter der Deckung stehen und zuckte leicht mit den kleinen Ohren. Ein leichtes Fauchen war zu vernehmen, aber es verschwand so schnell, wie es erklungen war. Es schüttelte seinen Kopf und blickte hinter dem Mülleimer hervor: „Ich bin hierher gesandt worden, um einer Legende nachzugehen.“ Mit tapsigen Schritten kam es hinter seinem Versteck hervor und verneigte sich. 

„Ihr seid unsere letzte Hoffnung Nadesha Kirana. Gewährt mir mich vorstellen zu dürfen. Seit Generationen bin ich im Familienbesitz der Familie Kirana. Eure Mutter und die ihrige haben mich gehütet und beschützt, um den Kirana-Sprössling zu finden, der die Legende oder die Erzählungen wiederbeleben kann. Mein Name lautet Haluk, bitte lasst mich Euch auf Eurer Reise begleiten.“ Das katzenartige Wesen sprach schnell und verhaspelte sich einige Male und Nadesha blinzelte deswegen verständnislos vor sich hin. 

Sie sah, wie sich der Blick von Haluk oder wie das Ding auch hieß, veränderte und wartete auf eine weitere Erklärung. Doch es kam nichts, denn Haluk huschte schnell aus ihrem Blickfeld und versteckte sich wieder hinter dem Mülleimer und schien mit sich selbst zu reden: „Problem … schlecht … Idiot, so peinlich …“ Einiges konnte sie verstehen, doch sie versuchte es dennoch so gut es ging zu ignorieren. 

Sie atmete ein, bis sie merkte, dass ihr immer noch die Worte fehlten und schüttelte dann leicht den Kopf. Sie wollte etwas dazu sagen oder sogar eine Frage stellen, aber es schien einfach nicht möglich zu sein. Sie rieb sich kurz über das Nasenbein und blickte dann zu ihrer Taschenlampe. Vielleicht würde das komische Ding ja reden, wenn sie einfach aus dem Zimmer verschwinden würde. 

Sie machte auf dem Ansatz kehrt und ging zur Tür, hörte dann einen erschreckten Laut, drehte sich aber nicht um: „Nein, bitte nicht gehe-oh …“ Ein dumpfer Laut war zu hören, doch Nadesha scherte sich für den Moment nicht darum. 

 

[ ° – ° ]

 

Sie hielt triumphierend die zweite kaputte Glühbirne in der Hand, die sie fix gewechselt hatte. Es gab keine Komplikationen, das Licht flackerte nicht mehr und es schien fast schon zu ruhig im Haus zu sein. In der Zwischenzeit hatte sie das Gespräch mit dem katzenartigen Wesen als Hirngespinst abgestempelt und ignorierte den Fakt, dass dieses Haluk-Dingens ihr doch vorhin nachlaufen wollte. 

Mit einem Schulterzuckten knipste sie ihre Taschenlampe wieder aus, da sie nun nicht mehr gebraucht wurde. Beim Blick im Spiegel stolperte sie fast nach hinten, weil ihr ein ekliges, verschwitztes Gesicht entgegenblickte: „Oh … das bin ja ich …“ Seufzend rieb sie sich über das leicht aufgeschwemmte Gesicht und ließ ihren Blick fast schon sehnsüchtig gen Badewanne wandern. 

Heute hatte sie alle Zeit der Welt. Ihren Job konnte sie erledigen wann, wo und wie sie wollte, weil sie selbstständig war. Obwohl es noch einige Schritte waren, ehe sie wirklich von einer Selbstständigkeit sprechen konnte; da sie gerade an einem ganz speziellen Artikel arbeitete; der ihr alles abverlangte. Vielleicht war dies auch einer der Gründe, weshalb sie das komische Ding von vorhin gesehen hatte. Es könnte ja wirklich nur ein Geist gewesen sein.  

Sie wollte sich eigentlich sofort in die Badewanne setzen, aber etwas ließ sie nicht los. Obwohl sie sicher war, dass das Haluk-Ding nur ein Hirngespinst ihres Selbst war, ging sie in ihr Wohnzimmer. Dort stand nämlich ihr größter Schatz, den sie zur Volljährigkeit geschenkt bekam. Das war nun schon gute fünf Jahre her und sie hütete das Geschenk wie ihren eigenen Augapfel. Ihre Mutter hatte ihr oft von der Wichtigkeit dieser Statue erzählt und auch, dass eine Legende, gar Erzählungen daran hafteten, doch sie wollte und konnte es nicht glauben.

Sie hatte ihr dann auch anvertraut, dass sie selber nicht an die Legenden glaubte und Nadesha deshalb damit tun konnte, was sie wollte. 

Einige Male hatte sie die Statue schon in der Hand gehabt, damit sie endlich im Mülleimer landen würde, doch den Mut konnte sie nie wirklich zusammenbringen. Irgendetwas hinderte sie immer daran, weshalb sie es nach ein paar Versuchen einfach hat sein lassen. Die Statue entwickelte erst ihre spezielle Anziehung, nachdem ihre Mutter an einer kurzen, aber heftigen Krankheit verstorben war. Die wunderschöne Cheetah-Statue spendete ihr oft Gesellschaft, als sie ihrer Trauer kundtat. Jedes Mal hatte sie das Gefühl, als würde ein warmes Licht sie einhüllen, wenn sie der schlanken Statue über den Rücken streichelte. Es war ein trostspendendes Andenken, das sicher dem einen oder anderen Vorfahren schon weitergeholfen hatte. 

Zielstrebig ging sie deshalb zum Regel, auf dem die Statue stand und erstarrte. Suchend sah sie sich sofort um, doch sie konnte sie einfach nicht entdecken. Hektisch ging sie auf das Regal zu und schaute sich genauer um, als ein stechender Schmerz unter ihrer Fußsohle explodierte. Fluchend blickte sie zu Boden und entdeckte die zersprungene Plattform, auf der die Cheetah-Statue immer stand. Von der Statue selbst war keine Spur zu erkennen und sie musste unwillkürlich an das Poltern von vorhin denken und ihr beschlich sich ein leiser Verdacht. 

Humpelnd ging sie in die Küche, um ihre Wunde zu versorgen und zog die Scherbe aus der Wunde heraus. Ihr Blick war plötzlich verschwommen und die Tränen, die auf ihre Kleidung tropften, fühlten sich so falsch, aber gleichzeitig richtig an. Ihr war auch im ersten Moment nicht wirklich klar, dass sie angefangen hatte zu weinen, doch sie konnte sie einfach nicht mehr unterdrücken. 

„Na toll …“, murmelte sie vor sich hin und strich sich unwirsch über die tränennassen Wangen. 

Ihr Gesicht würde bestimmt noch schlimmer aussehen als vorhin, aber wenigstens fühlte sie sich dadurch etwas besser. Dabei konnte sie das Gefühl nicht ablegen, dass dennoch etwas nicht ganz stimmte. Sie seufzte und stand dann wieder auf, ignorierte den kleinen Schmerz und ging zu ihrem Schlafzimmer. Nach dem Bad würde sie sich bestimmt noch besser fühlen, aber ohne frische Klamotten ging das schlecht. 

Auf dem Flur fing sie schon an sich auszuziehen, damit es schneller ging, weil sie eh alleine zu Hause war. Sie streifte sich fix die Pyjamahose von den Beinen und strauchelte deswegen etwas. Fluchend schmiss sie diese dann einfach in eine Ecke und wollte, als sie in ihrem Zimmer ankam, sofort zu ihrem Kleiderschrank, als ihr eine kleine Gestalt am Boden auffiel. 

Sie blinzelte verwirrt, weil sie sich nicht sicher sein konnte, ob das Hirngespinst weiterhin spukte oder ob es etwas anderes war. Ihrer Intention nachgehend, ging sie vorsichtig einige Schritte näher und beugte sich über das katzenartige Wesen. Es atmete flach und hatte die Augen geschlossen und Nadesha bekam es komischerweise etwas mit der Angst zu tun. 

Sie nahm deshalb all ihren Mut zusammen und legte zwei Finger auf das Fell des kleinen Wesens. Die Flecken, die sie darauf sah, erinnerten sie an die wunderschöne Cheetah-Statue, die sie gestern noch sehnsüchtig angeschaut hatte. Heute lag Etwas vor ihr, das der Statue ziemlich glich und sie war sich unsicher, ob nicht doch etwas mit ihr nicht stimmte. Doch alles gewann an Richtigkeit, als sie das pulsierende Herz unter dem Fell spürte und reflexartig die Hand zurückzog, geradeso als hätte sie sich daran verbrannt.

Ihr Herz fing langsam an schneller zu schlagen und sie konnte das Bedürfnis, über dieses Fell zu streichen und sich dran zu schmiegen, fast nicht mehr unterdrücken, als ihr ein kleines Geräusch auffiel. Der kleine Körper fing an sich zu bewegen und Nadesha beugte sich etwas tiefer herunter, weil sie glaubte die nasale, nuschelnde Stimme gehört zu haben. 

„…er“, konnte sie vernehmen und beugte sich noch etwas weiter herunter, „Hun…ger.“ Sie konnte es vernehmen und nur, um diesem Wort mehr Bedeutung zu geben, hörte sie ein lautes Magenknurren und schreckte hoch. 

Total perplex blickte sie auf das kleine Ding und wusste wieder nicht, was sie sagen sollte. Sie hatte sich auf eine eigenartige Weise Sorgen gemacht, doch dann stellte sich nur heraus, dass das Ding vor ihr einfach nur hungrig war? Ungläubig schüttelte sie den Kopf und wollte etwas zu essen holen gehen, als sie ein leicht gequältes Maunzen vernahm. 

Sie blickte auf den kleinen Körper und hob ihn dann hoch, um das Wesen in die Küche zu tragen. Sie ließ ihren Blick über Haluk gleiten und war sich nicht ganz sicher, was sie genau vor sich hatte. Er glich einem Cheetah, aber gleichzeitig hatte er auch etwas Menschliches an sich. Immerhin hatte er vorhin aufrecht hinter dem Mülleimer gestanden. Doch nun, wie er so auf ihrer Hand lag, erkannte sie nur das Tierische in ihm. 

Sie war sich sogar unsicher, ob sie überhaupt helfen sollte, weil sie nicht wusste, ob sie nicht eigentlich Angst haben müsste. Es erschien ihr aber einfach als unsinnig, Haluk einfach da liegen zu lassen und sich nicht um sein Wohl zu scheren. Sie war noch nie Jemand gewesen, der nicht hilfsbereit gehandelt hätte. Manchmal hatte sie damit ihre eigenen Bedürfnisse in den Hintergrund gestellt, aber die letzten Jahre hatten ihr gezeigt, dass es auch mal gut war egoistisch zu handeln. 

Sie musste an ihren Job denken und daran, dass sie als freiarbeitende Journalistin noch einen Zeitungsbericht schreiben sollte. Das Schreiben hatte sie schon immer fasziniert und wenn sie mit ihren Artikeln und Berichten anderen Leuten eine Freude machen konnte, war es für sie die größte Belohnung. Sie hatte auch schon länger mit dem Gedanken gespielt ein eigenes Buch zu schreiben und witterte nun, wenn sie so auf Haluk blickte, eine große Chance. 

Auch wenn sie übersinnliche Phänomene eher belächelte, erschien es ihr als unsinnig das Ganze gerade ins Lächerliche zu ziehen. Obwohl es bestimmt auch nicht so schlimm wäre, wenn sie ein sprechendes, auf zwei Beinen stehendes Cheetah-Ding als Beweis sehen konnte, dass auch sie etwas akzeptieren konnte, das nicht von dieser Welt war … 

Nachdem sie die ersten Minuten etwas unsicher in der Küche stand, weil sie nicht wusste, was sie Haluk zum Essen geben sollte, entschied sie sich für warme Milch. Immerhin handelte es sich bei einem Cheetah – wenn es denn wirklich eins war – um eine Raubkatze und da sie Katzen mit Milch assoziierte, erschien dies als richtige Entscheidung. Während sie die weiße Flüssigkeit erwärmte, vernahm sie ein leises Rascheln und bemerkte, wie Haluk seine Augen wieder öffnete. 

Sie lächelte ganz leicht und konzentrierte sich dann wieder auf die Zubereitung. Ein katzenähnliches Schnurren war zu vernehmen, obwohl es sie eher an eine grimmige Katze erinnerte, aber sie schien mit ihrer Essensentscheidung ins Schwarze getroffen zu haben. Sie musste zugeben, dass sie selber Unmengen an Milch zu sich nahm und deshalb auch den genauen Moment abschätzen konnte, wann sie fertig erhitzt war. 

„Ich weiß nicht, ob du Milch magst, aber …“, erklärte sie und blickte leicht verunsichert auf das katzenartige Wesen. 

„Ich …“, fing Haluk an und strahlte einen Moment lang. Nadesha glaubte sogar, dass er anfing zu sabbern, doch dann schüttelte er schnell den Kopf und blickte leicht traurig zur Seite. Er senkte den Kopf und fügte nuschelnd hinzu: „Milch ist nur etwas für kleine Kinder …“ 

Nadesha wollte ihm das nicht glauben, sagte aber diesbezüglich nichts dazu. Sie nahm deswegen theatralisch seufzend die Kasserolle vom Herd und schüttelte dann traurig den Kopf: „Dann muss ich diese leckere, leckere Milch wohl einfach wegschütten oder selber trinken. So ein Pech aber auch.“ Sie ging zum Waschbecken und wollte anfangen etwas davon wegzuschütten, als ein panischer Zwischenruf erklang. 

Haluk legte beide Tatzen auf seinen Mund und senkte beschämt den Kopf: „I…Ich. Die Milch … nicht wegschütten. Wenn Ihr es mir erlaubt, dann trinke ich sie gerne.“ Nadesha hatte das Gefühl, dass Haluk nur nuscheln konnte und schmunzelte dann leicht, goss aber etwas Milch in eine Schüssel und stellte sie neben sich. 

„Ich habe sie extra für dich vorbereitet, wieso solltest du sie dann nicht auch trinken dürfen?“, lächelte sie und schüttete sich selber etwas Milch aus. 

Ihr war es wieder aufgefallen, als er mit ihr sprach: „Wieso sprichst du überhaupt so aufgedunsen und steif?“ Sie fing sich schnell wieder, da sie ihre Reaktion selber verunsicherte und ging etwas auf Abstand. 

Haluk leckte freudig die Schüssel Milch aus und ließ mit seiner Antwort auf sich warten. Nadesha wurde indes etwas ungeduldig und wollte schon etwas sagen, aber dann setzte sich Haluk auf die Kante ihrer Arbeitsplatte und ließ seine hinteren Tatzen baumeln. Er leckte sich noch sauber und sah dann zu Nadesha hoch. 

„Nun. Meine Bestimmung ist es, dem Kirana-Nachfolger, sei es nun Weibchen oder Männchen, treu zu dienen. Ich soll dem Kirana-Nachfolger, also Euch, zur Seite stehen und helfen die Vergangenheit neu aufleben lassen. Wenn es Euch nicht widerstrebt, würdet Ihr mir das Jahr nennen, in dem wir gerade sind?“, fing Haluk an und fuhr unbeirrt weiter: „Ihr gehört nämlich einem stolzen Volke an, das mit der Kirana-Familie die größte Bedeutung in den Erzählungen hatte. Denn Ihr, Nadesha Kirana, seid die Nachfolgerin der letzten lebenden Cheetah. Gottesgleich, anmutig und stolz.“ Haluk neigte seinen Kopf selber anmutig und legte die Hand auf seine Brust. 

„In mir ruht das wichtigste aller Geheimnisse, das ich Euch gerne offenbaren würde. Habt keine Angst vor der Wahrheit und verschließt Euch nicht davor, denn dann wird die Wirklichkeit umso wirklicher.“ Mit einer Handbewegung breitete Haluk beide Pfoten aus und ein gleißendes Licht umschloss beide Körper.

 

[ ° – ° ]

 

Nadesha hielt schützend beide Arme über ihren Augen, als sie von der Lichtwand getroffen wurde. Kein Schmerz folgte diesem Schauspiel, sondern Verwirrung und ein Gefühl der Schwerelosigkeit. Ängstlich hielt sie noch den ersten Moment ihre Augen geschlossen, senkte aber ihre Arme. Ihr Herz schlug ihr im Hals und das Blut rauschte in ihren Ohren. Es dauerte einige Zeit, ehe sie eine tiefe Stimme vernahm, die ihren Namen rief. 

„Nadesha Kirana, Nachkommin der Cheetah, lausche den Erzählungen.“ Die grollende Männerstimme, die einen Hauch Nuscheln enthielt, kam ihr entfernt vertraut vor. 

Vorsichtig öffnete sie ein Augenlid und wurde von dem hellen Licht, das dort herrschte, wieder geblendet und schirmte ihre Augen ab. Es dauerte einige Zeit, ehe sie erkannte, dass sie sich in einem riesigen Raum befand und einige Meter über dem Boden schwebte. Als ihr diese Erkenntnis bewusst wurde, öffnete sie schlagartig beide Augen und schrie entsetzt auf. 

Ihr Straucheln brachte sie nicht aus dem Gleichgewicht, sondern wirbelte sie mühelos um ihre eigene Achse. Nach einigen Sekunden hatte sie eine Pirouette mit einer Rückwärtsrolle hinter sich und hing plötzlich kopfüber über dem Abgrund. Panisch kniff sie wieder ihre Augen zusammen und hoffte, dass sie nun in ihrem eigenen Zimmer wieder aufwachen würde. Sie fragte sich, ob Astronauten sich auch so fühlten. Doch nach dem erneuten Öffnen ihrer Augen hing sie immer noch kopfüber in dieser großen Halle und sah nichts, sondern hörte nur ein Seufzen. 

Plötzlich schwebte eine wunderschöne, in Licht eingehüllte, Raubkatze an ihr vorbei und sie hörte wieder diese grollende Männerstimme: „Seid unbesorgt, auch wenn sich mein Antlitz verändert, so bin ich immer noch Euer Diener, Haluk. Ich werde immer an Eurer Seite bleiben.“ 

Ein erneuter Lichtblitz traf Nadesha und sie schloss reflexartig wieder ihre Augen. Im nächsten Moment spürte sie kalten Boden an ihren nackten Beinen und eine warme Hand, die ihr aufhelfen wollte. Sie wollte sich schon bedanken, als ihr schlagartig klar wurde, dass vor wenigen Augenblicken noch ein wunderschöner Cheetah auf sie geblickt hatte und kein Mensch in der Nähe war. 

Schnell hatte sie sich auf ihre Beine hochgestemmt und blickte mit vor Schreck weit aufgerissenen Augen auf den jungen Mann, der vor ihr stand. Er streckte sich ausgiebig und ließ einige seiner Knochen knacken. Ihr fiel kein wirklicher Vergleich ein, wie sie den Mann beschreiben sollte, aber er besaß fast die gleiche Haarfarbe wie sie. Sie war sich noch nie sicher gewesen, wie sie sie benennen sollte, aber ihre Mutter hatte die Farbe ‚dunklen Honig‘ getauft. Die Farbe war eine Mischung von braun und blond und sie mochte die Bezeichnung dazu. 

Seine Kleidung wirkte altertümlich auf sie und hatte einige Verzierungen, die ihr seltsam bekannt vorkamen, wie so vieles an ihm. Sie konnte sich nur nicht mehr erinnern, wann sie diese schon mal gesehen hatte. Es wäre schon zu weit gegriffen, wenn sie die Zeichen als ein ‚Tribal‘ ansehen würde, weil es so viel mehr ausstrahlte. Ob es eine Stammesangehörigkeit bewies, die sie aber nicht einordnen konnte?

Als sich ihre Blicke kreuzten, erschien ein Strahlen auf dem jungen Gesicht und er kam fast schon hektisch auf sie zu. Nadesha schüttelte ihren Kopf und hielt abwehrend ihre Hände von ihrem Körper weg: „Wer sind Sie? Wo sind wir und was zum Teufel ist hier überhaupt los?“ Wütend ging sie einige Schritte nach hinten und stieß mit den Beinen gegen eine Steintafel. 

Enttäuschung machte sich im Gesicht des Mannes breit und ein Seufzen kam dann über seine Lippen: „Ich weiß, dass es viel auf einmal ist. Euch wird sicher nicht bewusst sein, wie unsäglich ich mich dennoch freue. So viele Jahre als Statue, wartend auf die rettende Erlösung.“ 

Nadesha blickte den Mann einen Moment schweigend an, weil seine Worte bei ihr erst einmal sacken mussten. Sie blinzelte noch einige Male, ehe sie die Hände, die sie gehoben hatte, senkte und den Mund öffnete, doch kein Ton kam heraus. Sie schüttelte kurz den Kopf und fing sich dann wieder: „Moment mal. Ich hab schon vorhin das ganze Geschwafel nicht verstanden, wie soll ich denn Ihr puzzleartiges Gerede jetzt verstehen? Verdammt noch mal, ich wollte doch meinen Tag heute gelassen angehen und was soll das nun alles hier?“ 

Wütend blickte sie auf den namenlosen Mann, deutete mit der Hand auf die Umgebung und hob dann drohend einen Finger: „Wenn Sie mir sagen können, wohin der Cheetah hingelaufen ist, wäre ich sehr glücklich darüber. Ich habe nämlich noch ein Hühnchen mit ihm zu rupfen.“ 

Seufzend ließ der junge, gut aussehende Mann den Kopf hängen und schüttelte entschuldigend den Kopf: „Ich weiß nicht genau, wie ich Euch dies erklären soll …“ Die nuschelnde Stimme kam ihr schon etwas bekannt vor. 

„Sagen Sie nicht!“, fing sie an, doch der Mann nickte nur. 

„Doch, ich bin Haluk. Dies ist meine wahre Gestalt. Ich will es Euch gerne erklären. Doch dafür muss ich Euer Vertrauen haben.“ Haluk, der Mensch, blickte sie entschuldigend an und verneigte sich leicht. 

Skeptisch sah sie auf ihn und lehnte sich gegen die Steintafel: „Und das soll ich jetzt einfach alles glauben? Wenn ja, was war das vorhin mit dem Jahr? Was für eine Bedeutung hat es, wenn du das weißt?“ Da sie nun wusste, dass sie dem kleinen Wesen von vorhin gegenüber stand, wich die Anspannung etwas von ihren Schultern und sie ging sofort wieder zum ‚Du‘ über. 

Haluk schwieg einen Moment und wischte plötzlich mit seiner Hand durch die Luft. Bilder kamen hervor und das sanfte Licht, das durch den Raum waberte, fühlte sich wundervoll auf ihrer Haut an. Sie erkannte Menschen, aber auch Cheetahs, die glücklich zusammenlebten und miteinander herumtollten. Auf einigen Bildern war nur die wunderschönste Natur zu erkennen, mit farbenfrohen Feldern und vielen Blumen. 

Doch das Bild änderte sich plötzlich und es wurden immer weniger Cheetah, die herumtollten. Die Natur hatte ihre Farbe verloren und die Lebensfreude, die vorhin in den Bildern zu erkennen war, wich der grauen Realität. Ein Bild stach besonders hervor, da sie Haluk erkannte und kurz zu ihm blickte. Seinen Blick hatte er abgewendet, weil er wohl nicht sehen wollte, was als nächstes passieren würde. 

Plötzlich war es ihr, als würde sie über der Szene schweben und von oben herab das Folgende beobachten. Stimmen waren zu hören und sie konnte den Geruch wahrnehmen, der der Erinnerung innewohnte. 

 

Schwer atmend lag Haluk mit einer großen Fleischwunde auf dem Boden und kämpfte um sein Überleben. Jeder Atemzug schmerzte in seinem Körper und sein felliges Antlitz war dem fleischigen gewichen. Furcht lag in seinen Augen, als er um sich schaute und viele Freunde und Bekannte auf dem Boden erkannte. Leblos ... wie die Schatten, die über ihnen schwebten. 

Nur eine stand noch leicht zitternd und fast unverletzt vor ihm und schütze ihn. Sie brüllte einem schwarzen Nebel entgegen und schien zu weinen: „Wieso? Wieso stellt Ihr Euch gegen uns? Was haben wir Euch getan, dass Ihr unser Volk zerstören wollt?“ 

Beide warteten auf eine Antwort, die hallend an ihren Ohren ankam: „S ü n d e r! Das Fell abgelegt, dem Fleisch nicht widerstanden!“

Die Frau blickte wütend auf den Nebel und schüttelte den Kopf: „Was soll daran Sünde sein, wenn zwei verschiedene Rassen sich ineinander verlieben? Ist es so gotteswidrig, dass Ihr ein ganzes Volk zerstören müsst?“

„B a s t a r d e! Erschaffen durch Mischung von Fell und Fleisch! Soll vom Antlitz radiert!“ Die Stimme wirkte sehr wütend auf beide und plötzlich kam ein greller Schuss aus der Wolke, die direkt auf Haluk zuraste. 

Der Angriff wurde von der Frau abgeblockt und sie hielt sich ihre verletzte Schulter. Schmerzverzerrt blickte sie auf Haluk und konzentrierte ihre Macht auf ihn: „Verzeih mir Bruder. Doch du sollst gerettet werden.“ Mit einem grellen Glimmen verschwanden seine Wunden und eine wunderschöne Cheetah-Statue erschien. 

Das Mädchen nahm die Statue in die Hand und rannte …

 

Die Bilder liefen weiter und zeigten verwackelte Erinnerungen und Nadesha stockte plötzlich der Atem. Das Gesicht ihrer Urgroßmutter erschien, dann das ihrer Großmutter und schlussendlich das ihrer Mutter. Ihr Gesicht war auch kurz zu sehen, doch es war durch einem anderen Lichtstrahl völlig unerkennbar. 

„Meine Schwester brachte mich zu dem letzten Überlebenden einer Cheetah-Familie, einem Kirana. Ihr eigenes Leben opferte sie, um das meinige zu retten. Lange Zeit habe ich aus den Augen der Statue die Welt gesehen, hoffend, dass der Tag irgendwann kommen würde. Der Tag, wenn die Cheetah wiedererwacht werden würden. Auch wenn ich bis jetzt nie verstand, wieso ich darauf wartete“, erklärte Haluk und kniete vor Nadesha nieder. 

Nadesha war total überfordert, weil sie gerade den Überblick total verloren hatte. Zuerst war Haluk eine Statue, dann ein sprechendes katzenartiges Wesen, dann ein wunderschöner Cheetah und nun ein Mann, der vor ihr kniete? Konnte und wollte sie das überhaupt glauben? Die ganzen Informationen und Eindrücke, die sie bekam, halfen über ihre Überforderung nicht hinweg. Es verwirrte sie eher umso mehr. 

Sie stieß sich leicht vom Stein ab und ging dann hin und her, weil sie nicht einfach sitzen bleiben konnte. Sie versuchte die Informationen zu ordnen um Haluk nun die richtigen Fragen stellen zu können. Komischerweise glaubte sie ihm alles, was er ihr bis jetzt gesagt oder gezeigt hatte. Vertrauen schien er ihr auch, was die Sache einigermaßen erleichterte, aber dennoch eigenartig erscheinen ließ. 

„Um eine deiner ersten Fragen zu klären, wir schreiben das Jahr 2016. Die Relevanz ist mir zwar immer noch etwas unklar, aber weil ich bekannte Gesichter in diesem schleierartigen Licht gesehen habe, gehe ich von der Annahme, dass du schon einige Jahre auf dem Buckel hast“, fing Nadesha an und fügte langsam hinzu, „Was ich nicht verstanden habe, ist diese ganze Sache mit den Cheetah. Was hat dies mit mir zu tun? Ich bin ein einfaches Mädchen, das gerade den ersten richtigen Job hat und nicht genau weiß, was später auf es zukommen soll oder wird.“ 

Haluk lächelte sie leicht an und nickte dann: „Ich kann mir vorstellen, dass Vieles für Euch sehr verwirrend erscheint. Doch glaubt mir, so ist es auch für mich. Hunderte Jahr‘ war ich nun als Statue gebannt, um den Nachfahren zu finden, der die Cheetah wiederauferwecken kann.“ 

„Ich versteh trotzdem nicht, wieso das Ganze mit mir etwas zu tun haben soll. Ich hab weder eine Gemeinsamkeit mit einem Cheetah noch kann ich mich in einen solchen verwandeln. Was hat das also für einen Sinn, wenn du hunderte Jahre auf jemanden gewartet hast, der dies sicherlich nicht mehr beherrscht?“ Wütend blickte sie auf Haluk und kehrte ihm dann den Rücken zu: „Ich denke du bist bei mir an der falschen Adresse.“

Haluk blieb einige Zeit schweigsam und seufzte dann leicht. Schritte waren zu vernehmen und er stand plötzlich vor Nadesha oder besser gesagt vor der Steintafel, hinter der sie gerade stand. Sein Blick ging nach unten und er beugte sich hinunter. Sanft strich er über den Stein und sagte leise: „Es mag verrückt klingen, aber ich wusste, dass irgendwann ein Kirana-Nachfahre geboren werden würde, der die verborgenen Kräfte der Vorfahren haben würde. Euch wurde dieses Schicksal auferlegt, bereits Eure Mutter hätte die Rettung aller sein können, doch die wirkliche Reinheit schien erst bei Euch erlangt worden zu sein.“ 

Er blickte auf sie und lächelte etwas traurig: „Es mag Euch seltsam erscheinen, dass gerade Ihr diese Person sein sollt, aber die Sünde, die vor hunderten Jahren begangen wurde, wurde scheinbar vergeben. Ich bin ein solcher ‚Bastard‘, der Vater ein Mensch, die Mutter ein Cheetah. Schon vor dieser Vereinigung war es unserem Volk gelungen die menschliche Gestalt anzunehmen. Den Göttern war dies zuteil geworden und die ‚Gerechtigkeit‘ wurde brutal über uns erhängt.“ Er ballte seine Faust und schloss seine Augen. 

Aus irgendeinem Grund heraus schmerzte Nadesha diesen Anblick, ging um die Steintafel herum und legte sanft ihre Hand auf Haluks Schulter. Er zuckte unter ihrer Berührung zusammen und zitterte leicht: „So viele sind vor meinen Augen gestorben und meine geliebte Schwester hat mir ihre letzte Lebenskraft geschenkt, damit ich irgendwann wiederauferstehen konnte.“ 

Nadesha wollte etwas sagen, ließ es aber für den Moment lieber sein und streichelte nur sanft über Haluks Schulter. Da aber von ihm kein Wort mehr zu hören war, ergriff sie die Gelegenheit: „Meine Mutter hat mir die Geschichte der Statue erzählt, als ich sie nach meiner Volljährigkeit erhielt. Ich wollte ihren Worten nie glauben, weil ich es einfach zu übersinnlich empfand. Sie sagte mir aber, dass das Mädchen, das die Statue unserem Vorfahren überreicht hatte, mit einem Lächeln auf dem Gesicht zusammenbrach und folgende Worte sprach ‚Haluk. Lebe für uns beide. Führe uns in die wundersame Zukunft‘.“ Sie schwieg einen Augenblick und musste dann leicht lächeln. 

„Ich habe die Worte nie wirklich verstanden, aber nun ergeben sie für mich einen Sinn“, flüsterte sie und blickte zum Stein, der sich als Grabstein herausstellte, „Lass deiner Trauer ruhig freien Lauf.“

Mit diesen Worten sank Haluk vollkommen in sich zusammen und schluchzte laut auf. Dabei kam er ihr so jung vor. Sie ging einige Schritte weiter und ließ ihn mit seiner Trauer alleine. 

Sie blickte sich in der Zwischenzeit in der Halle um und fragte sich, wo sie sich hier überhaupt befanden. Vieles war eingestürzt und die Natur hatte sich verschiedene Teile der wunderschönen Halle zurückgeholt. Grün vermischte sich mit weiß-gräulichem Marmor und die Grabsteine wiesen auch einige Altertumsspuren auf und sie strich behutsam über die kleinen Risse. Die Schrift konnte sie nicht wirklich lesen, da es sich scheinbar um eine alte handelte und sie ließ es schnell wieder bleiben. 

Trauer packte sie, weil solch einer schöner Ort langsam in sich verfiel und sie schloss kurze Zeit ihre Augen. Ein sanftes Rauschen kam an ihre Ohren und sie summte eine Melodie vor sich hin. Wärme glitt in sie und als sie die Augen öffnete, stand sie plötzlich in einer wunderschönen Blumenwiese. Soweit ihr Auge reichte, stand Blume an Blume, in den schönsten Farben und Formen. Der Geruch war betörend und anziehend und sie hätte sie am liebsten berührt, doch diese wunderschöne Naturansicht löste sich in Rauch auf und verwehrte weitere Einblicke. 

Ein Rascheln hinter ihr verriet, dass Haluk aufgestanden und zur ihr getreten war. Er stand mit einigem Abstand zu ihr und rieb sich den letzten Rest der Tränen aus den Augen und errötete: „Entschuldigt meinen Gefühlsausbruch. Ich hätte nicht damit gerechnet, dass die Erinnerung mich so einnimmt.“ 

Nadesha schüttelte sanft den Kopf und lächelte ihn beruhigend an: „Die Trauer zu unterdrücken bringt auch nix. Das hab ich am eigenen Leib gespürt. Du brauchst also keine Scham zu spüren, das ist eine ganz natürliche Reaktion.“ 

Nun empfand sie schon so viel Vertrauen, dass sie ihm gute Ratschläge geben wollte und sie errötete auch etwas. Es war peinlich zuzugeben, aber durch diese sanfte Melodie, die in der Luft lag, konnte sie die ganzen Erklärungen besser verkraften. Sie wollte deshalb der Sache weiterhin auf den Zahn fühlen und seufzte leicht: „Ich bin also kein Mensch?“

Haluk blickte sie kurz an und nickte dann: „Nein, dies ist nur Eure menschliche Erscheinung. Das Tier wartet darauf im Licht der Vergangenheit zu baden.“ Er beugte seinen Kopf leicht und lächelte dann liebevoll: „Die wundersamen Töne der vergangenen Tage liegen immer noch in der Luft. Welch schöne Erinnerung.“ 

Er bewegte seinen Körper im Takt der Musik, die erst seit einiger Zeit lauter zu hören war und fing an zu singen. Ein Leuchten umhüllte seinen Körper und er schien plötzlich von innen heraus zu strahlen. Ehrfürchtig hielt Nadesha den Atem an und beobachtete das wundersame Schauspiel. Er tanzte um sie herum und sein Gesang hallte in ihren Ohren wider. Ein leichter Taumel machte sich in ihrem Kopf und Körper breit und sie fühlte sich wie in Trance. 

Sie schwang ihren Kopf langsam hin und her, summte die Melodie, die in ihrem Körper vibrierte und spürte, wie sie immer leichter und graziler wurde. Immer schneller schlug ihr Herz und ihre Arme und Beine bewegten sich fast von alleine, als sie sich von der Musik treiben ließ. Jeglicher Gedanke war aus ihrem Kopf gefegt, als sie sich in Ekstase tanzte und Macht in sich aufwallen spürte. 

Ihr Körper veränderte sich, doch Schmerz empfand sie dabei nicht. Sie wurde grösser, schlanker und ihre Beine schrumpften. Plötzlich lag sie halb auf dem Boden, doch es störte sie nicht. Immer weiter trieb die Trance und die Melodie sie. Ihr Gehör wurde feiner und ihrer Nase entging kein Geruch mehr. Ihre Arme veränderten sich und sie spürte, wie sich ihr Körper langsam wieder beruhigte und sich der Rest auch verändert hatte. 

Schwer atmend öffnete sie schlussendlich ihre Augen und nahm so vieles mehr wahr. Alles hatte einen anderen Blickwinkel und sie spürte den Boden unter ihren Füssen nicht mehr. Als sie nach unten blickte, erkannte sie, dass sie keine mehr besaß und hätte am liebsten laut aufgelacht. Ihre Tatzen schwebten einige Zentimeter über dem Boden und jede Bewegung schien sie höher zu tragen. Sie versuchte einen Blick von ihrem ganzen Körper zu erhaschen, doch es stellte sich als schwieriger dar, als anfangs gedacht. 

Sie wusste nur, dass sie sich gewandelt hatte. Ihre Sinne waren geschärft, das Grün der Blätter war mit Gerüchen verbunden und die feuchten Stellen am Boden gaben ein solch interessantes Aroma ab, dass sie sich am liebsten darin gewälzt hätte, doch sie fand die Stellen einfach nicht. Lachend lief sie in der Luft weiter und entdeckte, dass auch Haluk als Cheetah vor ihr lief. Schnell hetzte sie ihm hinterher und sah, wie er spielerisch hin und her sprang. 

Ihr ganzer Körper wallte fast über von Energie und sie hatte das ungemeine Bedürfnis so schnell wie der Wind zu laufen. Deshalb trieb sie ihren neuen Körper so weit an, dass sie die Luft um sich peitschen spürte. So viele neue Geräusche drangen an ihre Ohren und mit einem beherzten Sprung landete sie halb auf Haluk. Empört fauchte er auf und wollte nach ihr schlagen, doch als sich ihre Blicke kreuzten, mussten beide lachen. 

Erschöpft blieben sie nach einigem Herumspielen liegen und Haluk war der erste, der seine Stimme wiederfand: „Es ist solch ein schönes Gefühl, als Cheetah durch die alten Hallen zu laufen.“ Er lag auf seiner Seite und leckte über seine Tatze, um seinen Kopf zu reinigen. 

„Ich … fühle mich eher, als hätte ich etwas Verbotenes getan“, gestand Nadesha und rollte etwas über den angenehm kühlen Boden. 

Sie log damit nicht, denn es kam ihr wirklich so vor, als hätte sie gerade sehr intime Momente mit Haluk getauscht. Die Verwandlung erschien ihr gerade nicht mehr so unsäglich unlogisch, sondern als eine der natürlichsten Begebenheiten. Doch sie fuhr plötzlich erschrocken hoch und ein helles Licht umschloss sie, durch das sie wieder einige Zentimeter über dem Boden schwebte. Sie hatte etwas wahrgenommen und wollte die Quelle dazu suchen. Haluk hob seinen Blick und sah sie fragend an, als sie sich fast schon hektisch umsah. 

Ihr Blick fiel auf einen großen Pfeiler, der in der Mitte der Halle stand und sie steuerte ihn zielstrebig an. Sie wusste nicht wieso, aber etwas daran hatte ihre Aufmerksamkeit erregt. Durch ihr eigenes Licht konnte sie die Zeichen, die im Stein wie von Zauberhand auftauchten, gut erkennen und versuchte zu entziffern, was da stand. Es gelang ihr nur nicht. 

Kind der Prophezeiung / Die Unseren / Verstreut in alle Winde / Kind zweier Völker / Verzeih den Göttern“, las Haluk vor und stockte, bevor er den letzten Teil las, „Schuldig sind wir.

Wie die Wörter erschienen waren, so verschwanden sie auch wieder. Haluk blickte etwas verunsichert auf die nicht mehr vorhandenen Wörter und dann zu Nadesha: „Ob die Götter Euch und mich damit meinen?“ 

Stille entstand zwischen den Beiden und keiner wagte etwas sagen zu wollen. Die Worte, die gesagt wurden, wogen schwer, obwohl sie gleichzeitig überhaupt nicht aussagekräftig waren. Es hätte alles bedeuten können, doch es wirkte auf Nadesha eher so, als hätte die tiefere Bedeutung mehr Sinn als jegliche oberflächliche. 

Ihr Blick ging umher und jetzt erst wurde ihr richtig klar, dass sie kein Mensch mehr war. Sie erkannte ihren eigenen Schweif und fing an ihm nachjagen zu wollen, als Haluk sie kopfschüttelnd davon abhielt: „Bringt nichts. Er läuft immer vor einem weg.“ Er zwinkerte kurz und hob mit dem wunderschönen Licht wieder vom Boden ab. 

„Lasst Euch von mir zeigen, wie die Rückverwandlung funktioniert. Danach gebe ich Euch noch einige wichtige Erklärungen“, sagte Haluk und fing an gegen den Uhrzeigersinn und mit dem Licht leichte Wellen zu laufen. 

Nadesha beobachtete wie sein Körper im hellen Licht eingewoben wurde und er schwer atmend als Mensch wieder auf dem Boden aufkam. Er zeigte, dass ihm nicht passiert war und Nadesha fing langsam an, seine Bewegungen nachzuahmen. Es fiel ihr nicht schwer, denn ihr Körper bewegte sich fast wie von selbst und sie lief wellenartig gegen den Uhrzeigersinn. 

Mit einem grellen Licht wurde sie sanft zu Boden gelassen und spürte eine leichte Erschöpfung in ihrem Körper. Ihr Atem ging stoßweise und die Ekstase, die sie vorhin gespürt hatte, verließ nun vollends ihren Körper. Haluk wirkte angeschlagener und sie ging deshalb langsam auf ihn zu: „Geht es dir gut?“ 

Er nickte nur und atmete weiterhin stoßweise. Es kam ihr gerade wirklich vor, als hätte sie etwas Anstößiges mit ihm angestellt, weil sie beide nach Luft rangen. Doch ihre Körper hatten sich nur einen kurzen Moment berührt und das auch nur … Schnell schüttelte sie ihre Gedanken weg und half Haluk auf.

„Mein Körper verträgt die Verwandlung nicht so gut. Da ich nur zur Hälfte ein Cheetah bin, reicht meine magische Kraft nicht aus, meinen Körper vor den Strapazen zu schützen. Bei Euch ist dies anders. Das Kirana-Blut, auch wenn es mit menschlichem gemischt wurde, wird immer reiner. Es verhält sich gegenteilig zu dem meinigen“, erklärte Haluk und setzte sich auf den Boden. 

„Das heißt, dass mein Blut reiner wird, obwohl es eigentlich verunreinigt sein müsste?“, skeptisch hob Nadesha eine Augenbraue und schüttelte dann den Kopf, weil es so verrückt klang. 

Haluk nickte nur zur Antwort und wartete noch einen Augenblick, ehe er weitersprach: „Es klingt sehr eigensinnig, doch mir ist dies bewusst geworden, als ich als Cheetah-Staue weitergereicht wurde. Jede der Kirana-Nachfolgerinnen hatte reineres Blut als die Vorgängerin. Mir wurde erst wirklich klar, da mir nie ein männlicher Kirana aufgefallen ist.“ Den letzten Satz sprach er leise, weil er scheinbar Angst vor der Antwort hatte. 

Nadesha schwieg einige Zeit, weil sie die Antwort kannte: „Kein männlicher Kirana hat je länger als einige Tage überlebt. Kein Arzt konnte bis jetzt herausfinden, woran es lag. Und bei meiner Großmutter und deren Mutter war es meist so, dass das Mädchen das einzige Kind blieb. Meine Mutter konnte mir diese Frage nie beantworten, weil ich sie ihr vor dem Tod nicht stellen konnte.“ Ihre Stimme war auch leise und sie schloss kurz ihre Augen. 

„Ich würde so gerne die erste Kirana sein, die sich über einen gesunden Jungen erfreuen kann, doch ich bin einfach noch nicht bereit für ein Kind. Obwohl ich schon alt genug wäre, eines zu bekommen, es widerstrebt mir einfach.“ Nadesha wurde leicht rot, weil sie bis jetzt noch nie über ihren Wunsch gesprochen hatte. 

Es kam ihr auch etwas seltsam vor, dass sie gerade vor Haluk so offen darüber redete. Er schwieg einige Zeit und lächelte sie dann an: „Ich bin mir sicher, dass es Euch gelingen wird diesen Wunsch Wirklichkeit werden zu lassen.“ 

Er stand schlussendlich auf und blickte noch einmal zu dem Pfeiler, auf dem vorhin die Worte geschrieben standen: „Sofern ich dies richtig deuten konnte, warten weitere Cheetah in der Welt darauf gefunden zu werden.“ Er verneigte sich leicht und fügte noch hinzu: „Ich werde Eurer Reise beiwohnen, sofern Ihr mir dies erlaubt.“

Nadesha antwortete nicht sofort, weil es plötzlich so schnell ging: „Wie sollen wir denn die Cheetah überhaupt aufspüren? Gibt es etwa eine geheime Möglichkeit?“ Sie hob eine Augenbraue und wartete auf seine Antwort, doch er lächelte nur und schüttelte dann den Kopf. 

„Das werdet Ihr selber noch früh genug herausfinden“, sagte er und schloss einige Zeit die Augen. 

Plötzlich erstrahlte ein Licht und Nadesha wurde fast magisch davon angezogen. Haluk stand genau davor und hielt ihr die Hand entgegen: „Wollt Ihr Euch mit mir auf die Reise begeben, um unsere Rasse wiederauferstehen zu lassen?“ 

Nadesha zögerte noch einen Moment, doch sie musste sich wieder an das wunderbare Gefühl als Cheetah erinnern und nickte ihn bestimmt an. Dann griff sie seine Hand und beide verschwanden in demselben gleißenden Licht mit dem sie hierher gefunden hatten ...




Envoyé: 11:31 Sun, 28 February 2016 par: Kutzner Tessy