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Vaz Dinis Beatriz Laura

Buch auf Reisen

 

Man kann schon sagen, dass ich am Anfang ein Langweiler war. Noch nie hatte ich Besonderes erlebt, beim Kennenlernen von ansprechend wirkenden Leuten hatte ich noch keine Erfahrungen gesammelt. Meistens fand ich meinen Platz an gemütlichen Orten, an denen normalerweise alles so verlief, wie es sein sollte und an denen ich auch nie viel zu tun hatte – ich war für nichts zu gebrauchen. Aus diesem Grunde wurde ich nicht oft angesprochen. Meine Mitgenossen sprachen über Tom Sawyer, über  kindliche Märchen von Prinzessinen und Drachen, über Naturkatastrophen , manchmal bloß über Geschichten, die frei erfunden wurden, aber sie hatten etwas zu erzählen, nur ich nicht. Was will man denn schon von jemanden wie mich hören? Ich war voll von leeren Seiten und leer von vollen, meine Gedanken flogen weit, bis sie irgendwann verschwanden. Genau, mich gab es fast nicht.

Eines Tages wurde ich von einer jungen Frau aufgenommen, die mich zu bewundern schien, was mich am Anfang ziemlich verwirrte. Sie meinte, ich sei  wunderbar und würde zum Anfang ihrer Karriere werden. Ich fragte mich, ob sie in der Tat jemanden brauchte, um erfolgreich zu sein. Sie schien alles zu haben, was man sich wünschen konnte. Ihre Kleidung war sehr modern, einzig ihr Anblick war nötig, um sowohl ihre äußerliche als auch innerliche Schönheit zu sehen. Doch das, als ob dies nicht genügte, um in mir die Neugier zu wecken, war nicht alles. Ihre Wohnung war ganz und gar voller Gemälde von wichtig aussehenden Menschen, mit ernsten und strengen Blicken. Mir kam es vor, in einem Museum zu sein. Spätestens der etwas eigenartig dekorierte Raum, indem sich die junge Frau stundenlang aufhielt, gab mir die Sicherheit, in einem normalen Haus zu sein, wo man  es sich gut gehen lassen konnte. Jedenfalls fand ich an dem großen Schreibtisch, der sich dort befand, etwas Einzigartiges. Er war von Zeitungen, Büchern, Schreibwerkzeug und Magazinen dicht bedeckt. Allein ihr Computer gab mir das Gefühl, in der heutigen Welt zu leben.
Die Tage vergingen langsam, und “der Anfang ihrer Karriere” schien nicht näher zu kommen. Aus der ruhigen Bude wurde schon bald ein lautes Kinderzimmer. Da gab es diesen Mann, der alles auf den Kopf stellte und die Wände und Möbel nach Zigaretten riechen lies, und der kleine nervige Mensch, der nichts anderes im Sinn hatte, als die Frau während des Schlafes aufzuwecken. So kam es, dass ich irgendwann, ohne dramatische Verabschiedung, weggeworfen wurde. Nächtelang gab es für mich nichts mehr als eine Kartonkiste, in welcher ich im Vorgarten neben dem Briefkasten schlafen konnte. So war es.  Über den Aufenthalt im Haus der  Frau gibt es nicht viel zu erzählen , jeden Tag gab es das Gleiche. Seit dem Moment, an dem ich verspürte, dass ich bei ihr keinen Platz mehr hatte, ist sie für mich „die junge Frau”.
Zu meinem grossen Glück sollte mein Leben nicht aus langweiliger Zeit im Karton bestehen, denn nach etlichen Stunden  besuchte mich ein kleines Mädchen. Sie war klein, kindhaft, hatte ein süßes Gesicht und ähnelte wirklich einer Puppe. Ihren Blick nach wusste sie nicht was ich war. Sie schaute mich mit fragenden Augen an, runzelte die Stirn. Womöglich fragte sie sich, warum ich dort lag oder wie ich dorhin gelang, vielleicht fand sie mich interessant. Sie packte mich, drückte mich gegen die Brust, ließ wieder locker und rannte. Es war bestimmt eine spontane Idee. Das Mädchen rannte wie um ihr Leben, als würde sie vom Weltuntergang verfolgt. Nicht selten stolperte sie und zog mich mit zu Boden. Doch es schien ihr nichts auszumachen, denn sie stand immer wieder auf und rannte. Nach einigen Augenblicken befanden wir uns  beide und unter einer Art Dach, gebaut aus Blättern und Ästen, geschmückt mit glitzernden Dingen, die ich selber nicht identifizieren konnte. Sie war die Erste, die zu mir sprach, mit ihrer niedlichen Stimme. Sie erzählte mir über ihre Eltern, millionenfach. Über ihre Geschwister, die sie niemals gehabt hat und über das, was sie im Leben erreichen will. Ich bin mir sicher, so manch Wunsch von ihr war größer, besonderer als das, von jedem anderen Mädchen auf dieser Welt. 
Das Kind war auf die eigene Art und Weise interessant. Es hatte so viel zu sagen, und bestimmt hätte ich mehr von ihm erfahren, wäre ich an diesem Abend nicht von ihm getrennt worden. Es war wieder einer dieser turbulenten Male, in der das junge Mädchen rannte. Ein so junger Mensch kann doch nicht so schnell laufen, dachte ich mir immer wieder. Ich blickte mehrfach zu ihr rüber, meine Gedanken kamen nicht mehr nach, so schnell war sie diesmal, sie blieben zurück, an Bäumen hängen, hinter Straßenlaternen, wo sie von den lauten Sirenen eingeholt wurden. Die roten und blauen Lichter, die am Körper des Mädchens streiften, wirkten wütend, gestresst, und sie wurden immer stärker. Sie lähmten uns, aber der Lauf schien niemals aufhören zu wollen, zumindest für das Mädchen, denn ich fiel auf die Straße und dort blieb ich liegen. Ich wusste, ich würde die Puppe nicht wieder sehen, aber die Puppe war es, die mir als erstes Geschichten erzählte.
Es war außergewönlich, die Lichter und die Sirenen ließen mich zurück, sie interessierten sich nur für das Mädchen. Lange, lange Zeit wartete ich am Straßenrand auf sie, doch sie kam nicht wieder. Ich redete mir ein, sie habe mich aus Versehen aus den Augen verloren, und in diesem Zeitpunkt erinnerte ich mich an ihre Kleider. Sie hatte ihren ganz individuellen Stil.

Ich wurde von Leuten getreten und geschubst, von anderen ignoriert. Bis tief in die Nacht, in der ich die Kälte und die Dunkelheit aushalten musste. Diese Zeit war schrecklich, denn niemand wollte sich um mich kümmern. Doch trotz meiner Verschmutzung , da fand ich mein Glück, fand mich eines Morgens ein alter Herr. Dieser Mann ist nicht einfach zu beschreiben. Er sah aus wie ein gewöhnlicher Großvater, bloß etwas schwächer, kleiner, hilfsloser, brüchiger. Auch die Falten in seinem Gesicht waren deutlicher zu sehen als bei anderen , und die Sorgen in den Augen waren nicht zu übersehen. Nein, dieser Mann war nicht ein gewöhnlicher, er hatte bestimmt etwas zu erzählen, und darauf freute ich mich.
An diesem grauen Morgen, die Wolken verdunkelten die Straßen, ließen die Sonnenstrahlen nicht frei, kehrte diese dunkle Gestalt die orangenen Blätter aus dem Weg. Da war es, als er mich entdeckte. Seine gläsrigen Augen betrachteten mich aufmerksam, warteten, dass schnell etwas passiert. Doch es passierte nichts. Er stand nur da, und kam  mir immer näher. Seine Beine waren schwer, das sah man auch aus großer Entfernung. Seine Bewegungen waren langsam und ermüdigend, bei jedem Schritt musste er keuchen und für ein paar Sekunden inne halten, um sich nicht zu viel anzustrengen. Es dauerte eine Ewigkeit, bis er bei mir war und mich ins Haus brachte.
Das Haus war klein und sehr alt. Es ist sicherlich kurz vor dem zusammenbrechen, ging es mir durch den Kopf, wie kann man drinnen ein friedliches Leben führen? Ich hatte genug Zeit mir jedes Detail genau einzuprägen, sodass ich es später hätte einwandfrei nacherzählen können; die Schritte wurden gezielt ausgewählt, und nach jedem Atemzug folgte eine Pause. Endlich im Haus angekommen, bemerkte ich, dass es von innen noch kleiner aussah. Und mir wurde sofort klar, niemand sonst wohnte hier. Die Zimmer waren leer, die Fotos und Bilder mit fröhlichen Leuten bildeten die Familie des alten Mannes. Nach dem mühsamen Wandern waren wir beide glücklich, einen Platz zum Sitzen zu finden, wenn es auch nur die harte Treppenstufe war. Dort saßen wir eine ganze Weile, mehrere Stunden pro Tag. Nur manchmal, wenn die Sonne es gut mit uns meinte, saßen wir auf der Terasse. Wie ich es schon ahnte, hatte der Herr mir viel mitzuteilen, wirklich viel. Mich wunderte es immer wieder, dass er doch lachen konnte, aber ganz oft wurden die Tränen zu schwer, als dass er sie hätte tragen können, da ließ er sie einfach fallen. Aber mit jeder gefallen Träne wurde die Trauer in seinen Augen bedeutungsloser und die Last schien leichter zu werden. Und ich war froh, so sehr, dass ich die Ehre verspühren konnte, sie sehen zu dürfen.  Ich weiß, da waren so viel Erinnerungen aus Kindheit und Gegenwart, über die man schon vor vielen Jahren hätte reden sollen. Sie waren eine Last, die man so leicht hätte abgeben können. Vielleicht war es das, was ihn bei mir sein ließ , denn eines Tages war er nicht mehr da. Mir sagte er noch, er müsse gehen, alte Bekannte treffen, meinte er. Und so wurde ich auf der Terasse zurückgelassen.
Die Nachbarn mussten gemerkt haben, dass der alte Mann nicht mehr in diesem Gebäude wohnte, denn einige Tage später kamen Leute, die seine Sachen holten. Alles packten sie an diesem Wintertag in einem grossen Wagen. Sie behandelten die Möbel wie unwichtiges Zeug, der Besitzer wäre zornig geworden, wenn er das gesehen hätte! Aber mir ging es nicht so schlecht, wie dem anderen Kram. Ich wurde nicht in den Wagen geworfen, zu mir sagte jemand , ich dürfte dort nicht bleiben und ich sei dem alten Herrn bestimmt sehr wichtig gewesen. Deshalb brachte man mich mit einem Flugzeug in ein anderes Land.
Der Flug dauerte mehrere Stunden, ich konnte es kaum erwarten, wieder auf festem Boden zu sein. Ich war endlich zufrieden, als der Flug zu Ende war und ich einen heißen Sommerwind spüren konnte. Ich wusste selber nicht genau, wo ich mich an diesem warmen Ort befand und niemand nannte mir den Namen dieses Landes. Doch schon bald ging die Fahrt weiter. Ich wurde mit einem wirklich luxuriösen Fahrzeug zu einem prächtigen Schloss gebracht. Es sah wahrhaftig wie ein Schloss aus, und er wurde von einer großen Familie bewohnt. Alle waren sie wohlhabend angezogen. Hier war ich das fünfte Rad am Wagen! Ich gehörte nicht hierher! Und trotzdem fingen diese Menschen an zu weinen, als sie mich sahen. Mir wurde der Name „Andenken an ihn“ gegeben und so bekam ich einen Ehrenplatz in diesem riesigen und aufwendigen Haus. 
Leider wurde ich schon bald auf eine weitere Reise geschickt, nur wurde ich diesmal von einer der Menschen, die in dem Schloss wohnten, begleitet. Ich weiss nicht, wohin genau wir gehen sollten, jedenfalls kam ich dort nie an. Doch an diesem Tag lernte ich eine für mich schlimmere Methode des Reisens kennen: Auf dem Wasser ist es weit schlimmer als in der Luft! Heute noch erinnere ich mich an diese nasse Erfahrung. Ich weiß nicht, ob es tatsächlich so gewollt war, dass ich in die stürmischen Wellen fallen sollte, aber so geschah es. Der Mensch hat meine Abwesenheit bestimmt bemerkt. Aber vielleicht auch nicht, schliesslich war ich nicht das Einzige, was damals ins Wasser fiel. 
Glücklicherweise strandete ich und wurde somit gerettet. Der Ort, an dem ich nun bin, ist friedlich und angenehm. Ich wurde zwar von keinem mehr gefunden, aber alleine bin ich nicht. Meine Erinnerungen, Erfahrungen und Abenteuer stehen Wort für Wort auf die einst leeren Seiten, die nun voll sind. Irgendwann werde ich entdeckt, und eine neue Reise wird beginnen, die mir neue Erinnerungen, Erfahrungen und Abenteuer schenken wird. 

 




Envoyé: 11:08 Tue, 16 February 2016 par: Vaz Dinis Beatriz Laura