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Hengel Elsa

Sie ist doch krank

 

   Als im späten Winter die Resultate der Tests ankamen, waren alle schockiert. Die Diagnose bestätigte das, was jeder befürchtet hatte: Krebs. Die fast siebenjährige Lara hatte es dann doch getroffen. Die Familie, die Freunde, die Nachbarn, allen hatte diese Nachricht die Sprache verschlagen. Auch Laras Zwillingsschwester Sabrina wusste nicht, was sie dazu sagen sollte. Sie hatte doch erst vor kurzem erklärt bekommen, was Krebs ist und konnte sich das Ganze nicht richtig vorstellen. Aber als sie sah, dass alle weinten, weinte sie mit.
   Ab dem Tag der Diagnose änderte sich einiges. Es kamen beispielsweise öfters Leute vorbei. Tante Agneta war eine der ersten, die an der Tür klingelte. Sabrina ließ sie ein und bekam einen Schmatzer auf die Backe zusammen mit einem «Guten Tag, Kleine». Dann kam sofort ein «Wie geht es deiner Schwester?». Diese Frage wurde ihr seitdem von jedem gestellt. Sabrinas Antwort war auch immer das gleiche «Ganz gut». Anschließend sprach der Besuch, sei es Tante Agneta oder jemand anderes, mit Lara, sah sie besorgt an und drückte sie lieb. Darauf folgte ein Gespräch mit den Eltern. Selbst wenn Sabrina beim Gerede nicht immer ganz mitkam, so hörte sie jedes Mal Sätze wie «Sie ist doch noch so jung.» und «Das tut mir ehrlich Leid.» heraus. Als Sabrina einmal ihre Mutter fragte, warum denn nun so viele Leute nur für Lara vorbeikamen, erwiderte diese bloß: «Sie ist doch krank.»
   Die Kinder aus der Nachbarschaft kamen an einem anderen Tag vorbei. Ihre feuchten Augen richteten sich auf Lara, obwohl Sabrina direkt daneben stand. «Wir wollten dir eine Freude machen», sprach der Älteste der Gruppe. «Du hast dir doch immer so eine Puppe gewünscht.» Dann zog ein anderer ein Stoffmännchen hinter dem Rücken hervor und übergab es Lara, die trotz vereinzelten Tränen lachte. Sabrina gönnte ihrer Schwester das Geschenk, dachte aber daran, dass heute nicht ihr Geburtstag oder Weihnachten war, sondern ein normaler März-Tag. Warum wollte man also nur Lara eine Freude machen und nicht ihr? Als Sabrina dies ihren Vater fragte, antwortete er bloß: «Sie ist doch krank.»
   Ein unerwarteter Besuch war der von Oma Gertrud, die eine weite Strecke bis zu den Zwillingsschwestern zu fahren hatte. Im Gepäck hatte sie einen großen Blumenstrauß, den sie Lara vor die Nase hielt. «Ich wollte sichergehen, dass du noch etwas von diesem Frühling siehst», flüsterte sie mit Tränen im Gesicht. Sabrina ging danach zu ihr und fragte: «Warum sollte sie denn nichts von diesem Frühling sehen? Es ist doch bereits März.» Oma Gertrud schüttelte traurig den Kopf und erwiderte bloß: «Sie ist doch krank.»
   Von Tag zu Tag wurde Lara immer mehr Aufmerksamkeit geschenkt. Sabrina verwirrte das alles, denn sie verstand nicht. Ratlos fragte sie ihren Teddybären nach einer Erklärung. Dieser sah sie mit Knopfaugen an und antwortete bloß: «Sie ist doch krank.»
   Trotz den unerklärlichen Dingen versuchte Sabrina sich auf das Spaßhaben zu konzentrieren. Beim Fangenspielen lief sie jedoch auf die Straße und genau vor ein Auto. Nach einem lauten Knall stürzte das Mädchen zu Boden und blieb reglos liegen. Lara kniete sich neben ihre Schwester und fragte: «Warum bewegt sie sich denn nicht?»
   Sie war nicht krank. Sie war nun einfach nicht mehr da.




Envoyé: 09:23 Mon, 15 February 2016 par: Hengel Elsa