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Bertemes Lara

Menschliche Schwäche

Menschliche Schwäche

Links von mir sitzt ein Mann mit langem weißem Bart und einer runden Brille, der von uns einfach nur Merlin genannt wird. Er hat wie wir alle, ein weißes Hemd und eine schwarze Hose an. An seiner Brusttasche ist ein kleines Logo draufgenäht. Da steht FZFM, was eine Abkürzung für „Forschungszentrum für menschliche Schwäche“ ist. Wie auch immer, jedenfalls ist er dabei, so viel zu lachen, dass man meinen könnte, er würde gleich von seinem großen Ledersessel fallen. Er kann sich glücklich schätzen, auf seinem Bildschirm zeigt die Kamera einen Zirkus, wo die Clowns ihre üblichen Witze reißen. Rechts von mir sitzt eine dicke Frau mit langem blondem Haar, blauen Augen und der schwarz-weißen Uniform. Sie wäre wohl eine der schönsten Frauen, würde sie sich angemessener ernähren.  Gerade hat sie wie üblich eine XXL-Tüte Chips in ihrer Hand und sticht sich eine Handvoll Chips in den Mund. Dieser ist noch immer von ihrem vorherigen Snack mit Schokolade beschmiert und ihr weißes Hemd ist mit allen möglichen Dingen wie Tomatensoße, Mayonnaise, Fett und Dinge, die unidentifizierbar sind bekleckert. Dieser Anblick lässt mir mein Frühstück hochkommen und dieser Geruch! Jetzt aber zum wesentlichen. Auf ihrem Bildschirm sieht man gerade eine Schulklasse, die einen Zoobesuch macht. Die Lehrer haben etwas Probleme, die herumtollenden Kinder unter Kontrolle zu halten. Das eine ist gerade im Affengehege, während ein kleiner Rotschopf mit den Pinguinen umher schwimmt und ein anderer den Löwen streichelt. Natürlich sind die Mädchen auch nicht gerade Engelchen. Eine kleine Blondine mit weißem Röckchen täuscht gerade einen epileptischen Anfall vor, um den Verkäufer aus dem Souvenirgeschäft abzulenken, der sich nun neben sie gekniet hat, damit der Rest der Bande, das Geschäft plündern kann. Die Kinder, die etwa acht Jahre alt sind, verursachen so viel Tumult, dass die Lehrer verzweifelt im Kreis rennen oder einfach auf dem Boden sitzen. Auf diesem Bildschirm ist so viel Aktion zu sehen, dass man glatt denken könnte, es wäre ein Kinofilm. Merlin und die Dicke sind nicht die einzigen, die auf einen Bildschirm starren. In diesem Raum befinden sich noch etwa unzählig andere Bildschirme. Jeder Bildschirm ist mit einer Überwachungskamera auf der ganzen Welt verbunden, die immer einen anderen Ort zeigt. Diese Kameras befinden sich überall, sogar in deinem Schlafzimmer. Der ganze Raum ist von oben bis unten mit Bildschirmen bedeckt. Dieser Raum ist einer von unzähligen. Insgesamt sind es etwa so viele Bildschirme wie es Leute gibt oder sogar mehr. Es ist unvorstellbar wie viele Dinge sich auf der Welt abspielen, die hier auf den Bildschirmen zu sehen sind. Lachende Menschen, Jubelnde, einer wird vom Zug überfahren, andere singen, tanzen, weinen, verletzten sich, schlagen, zittern, der Eiffelturm steht in Flammen und andere verschwinden von dieser Welt, sie verlassen uns. So viele Bildschirme, so viele Möglichkeiten und welchen Bildschirm bekomme ich zusehen?! Auf meinem Bildschirm sieht man einen kleinen Jungen mit kurzen braunen Haaren, dunklen Augen und gebräunter Haut. Seine Augen sind so groß und unschuldig. Neben ihm geht ein Mann, ich nehme an seinen Vater, da er ihm sehr ähnlich sieht. Hand in Hand gehen Vater und Sohn auf einer Straße. Ich bin mir nicht sicher ob man, das was man sieht als Straße bezeichnen kann, da alle fünf Meter ein Krater ist. Entlang der Straße liegen soweit mein Blick reicht nur noch Trümmer. Der Vater und sein Sohn gehen ein Stück an der ehemaligen Straße entlang. Auf einmal reißt sich der Junge von der Hand seines Vaters und läuft auf einen Haufen Trümmer zu und fängt an zu graben. Der Vater kommt ebenfalls hinzu und hilft mit.  Beide graben wie verrückt bis plötzlich eine Hand unter dem Haufen auftaucht. Sie ziehen eine ganze Person heraus. Es ist eine Frau, die eindeutig beim Einsturz des ehemaligen Gebäudes nicht entkommen konnte und lebendig begraben wurde. Ihre Haut ist bleich wie Kreide, sie hat dunkles langes Haar und hat noch Fetzen von einem violetten Rock an. Der kleine Junge fängt an zu weinen und flüstert schluchzend: „Mami.“

Das ist zu viel für mich. Ich drehe mich weg vom Bildschirm und stehe von meinem grünen Stuhl auf. Ich habe Tränen in den Augen. Ich gehe auf die Tür zu um den Raum und diese schrecklichen Bilder zu vergessen.

Nun befinde ich mich in einem langen Flur mit weißen Wänden und Unmengen von bunten Türen, die in andere überwachungsräume führen. Ich gehe ein Stück und entscheide mich für eine himmelblaue Tür. Als ich sie öffne, sehe ich einen ähnlichen Raum wie den, aus dem ich gerade gekommen bin mit ebenso vielen Bildschirmen. Keiner beachtet mich bis auf Jo, der mich zu sich rüber winkt. Er empfängt mich mit seinem üblichen breiten Lächeln und fragt: „Hältst es wohl nicht mehr lange vor dem Bildschirm aus?“ Ich zeige ein schwaches lächeln und nicke.

Schon seit fünf Jahren mache ich diesen Job. 12 Stunden täglich starre ich wie mein Freund Jo auf den Bildschirm. Mein einziger freier Tag ist Sontag. An  meinen Arbeitstagen, esse ich sogar morgens, mittags und abends vor dem Bildschirm. Die restlichen zwölf Stunden schlafe ich. Nach fünf Jahren des Bildschirmstarrens, habe ich es satt. Ich halte es nicht mehr aus diesen traurigen Fleck Erde zu beobachten und zu sehen was für Schmerzen ein kleines unschuldiges Kind ertragen muss. Auch Jo ist einer ähnlichen Situation. Auf  seinem Bildschirm sieht man eine Front. Von allen Seiten beschießen sich Soldaten mit Gewehren. Man sieht Verwundete am Boden, die auf den Tod warten oder schon nicht mehr unter uns sind. Grausame Bilder, die man nicht mehr so schnell vergisst. Er versteckt all dies hinter seinem Lächeln. Eine Stimme reißt mich aus meinen Träumen: „Was machen Sie hier? Sie haben ihren Arbeitsplatz unerlaubt verlassen. Sie wissen doch was das bedeutet?“ Ich drehe mich um und hinter mir steht der Chef der ganzen Organisation. Ganz plötzlich wird mir etwas übel und ich nicke nur. „Ich stelle sie unter Arrest“, ordnet er an und aus dem nichts tauchen Sicherheitsoffiziere auf. Sie führen mich aus dem Raum in den Flur mit den vielen bunten Türen. Am Ende des Flurs kommen wir zu einer Tür mit der Aufschrift Wohnungen. Dahinter folgt ein weiterer Flur mit Türen, die von eins bis 1000 nummeriert sind. Die Offiziere halten bei der der Tür 524 an, schubsen mich herein und schließen die Tür ab.

Nun bin ich in meinem eigenen Haus eingeschlossen, mir ist noch immer unklar, wie sie meine Hausnummer wussten. Das ist nicht die Art „Zuhause“, die ich auf anderen Bildschirmen gesehen habe. Gerade stehe ich in einem Raum mit weißem Fliesenboden und orangen Wänden, die mit Postern und Plakaten geschmückt sind. Hier habe ich einen großen Ledersessel mit einem Bildschirm, wie ich ihn jeden Tag sehe, aber der „Fernseher“ genannt wird. Dann ist da noch eine Wand mit Ofen, Mikrowelle, Kühlschrank, Spülbecken und weiteren Theken bedeckt. Da sind noch zwei kleine Nebentüren, eine führt zum Badezimmer und die andere zu einem bescheidenem Schlafzimmer mit Bett und Schrank. Das Ganze ist mein Heim. Diese kleine Wohnung war jedoch nicht immer mein Heim. Ich wurde erst im Alter von zehn Jahren von der Organisation aufgenommen.

Noch kurz vor meinem zehnten Geburtstag war ich Teil einer glücklichen Familie bis mein Vater in den Krieg ziehen musste und dort umkam. Meine Mutter hat seinen Tod nie verkraftet und litt an heftigen Depressionen. Eines Tages fand ich sie tot am Boden. An die nachherigen Ereignisse habe ich nur wenig Erinnerung. Zwei Männer mit weißem Hemd und schwarzer Hose tauchten unerwartet auf. Sie behaupteten, sie wären vom Kinderheim und müssten mich abholen. Ich glaubte das gleich, da ich keine Tanten oder Onkel oder Großeltern hatte. Ich kann mich noch gut erinnern, dass als ich aus der Haustür trat und den blauen Himmel und die Sonne in voller Pracht sah. Dann stieg ich mit den beiden Männern in einen großen schwarzen Wagen. Sie boten mir etwas zu trinken und zu essen an. Ich nahm es ohne zu zögern an und schlief nach dem Verzehr ein. Ich wachte in dieser Wohnung auf. Hier lebte ich dann bis heute. Bevor ich den Job als Bildschirmstarrer bekam, ging ich hier unten mit vielen anderen Kindern zur Schule, bis ich 18 war. Darauf folgten dann die fünf Jahre als Bildschirmstarrer. Ich habe all diese Jahre an denen ich hier unten war keinen Himmel gesehen. Ich muss die ganze Zeit auf diesen Bildschirm starren und nach 12 Stunden einen Bericht schreiben und diesen später an eine andere Gruppe von Arbeiter, die Checker weiterreichen. Sie lesen die Berichte und schreiben besondere Feststellungen auf. Diese landen wiederum bei einer Gruppe von Wissenschaftlern. Sie machen, die eigentliche Aufgabe, sie suchen mit Hilfe von diesen Informationen eine Lösung gegen menschliche Schwächen. Mehr weiß ich selbst nicht. Für mich ist es undenkbar wie man ein Mittel gegen Schwächen oder sozusagen menschliche Fehler finden kann. Während den letzten Jahren, habe ich nur auf meinen Bildschirm gestarrt und Berichte geschrieben. Dabei hatte ich aber auch viel Zeit zum Nachdenken. Eins habe ich aus all dem geschlossen, so kann das nicht weitergehen! Das FZFM hat mich aufgenommen, doch was habe ich davon? Den ganzen Tag vor einem Bildschirm und noch einer der grausamen Bilder zeigt! Ich habe dann nur für ein paar Minuten von insgesamt 12 Stunden den Bildschirm verlassen und wurde sofort unter Arrest gestellt.

Nun sitze ich etwa drei Wochen in meiner Wohnung eingesperrt, die Nahrung wird knapp und niemand ist vorbei gekommen. Auch die Luft wird langsam knapp und dabei riecht sie auch noch nach Schweiß und Angst. Ich fange an Selbstgespräche zu führen und leide unter ständigen Kopfschmerzen.

Aus heiterem Himmel erklingt die Feueralarmsirene. Die Tür öffnet sich plötzlich und mein Freund Jo kommt hustend hereingestürmt. Von draußen gelangt Unmengen Qualm herein. Das Einatmen schmerzt, Schweiß läuft an meinem ganzen Körper herab. Jo berichtet hustend: „Draußen ist ein Feuer…, es gibt kein Entkommen…“, dann kippt er einfach nur um. Tränen laufen meine Wangen herab. Meine Sicht wird nebliger bis sie schwarz wird. 




Envoyé: 09:58 Sat, 16 May 2015 par: Bertemes Lara