Hinter der Fassade

Tausende Blitzlichter klickten, als das Auto anhielt. Sofort stieg das Flüstern und Raunen an, das sie auch zehn Jahre später noch immer kolossal nervte, an das sie sich zu ihrer Verwunderung jedoch mittlerweile irgendwie gewöhnt hatte. Nicht dass es sie mittlerweile freute, dieses Getuschel zu hören, doch sie hatte wenigstens gelernt, es einigermaßen auszublenden.
     Nicht so heute. Heute schien es noch lauter als sonst zu sein, dröhnte in ihren Ohren. Manche murmelten ihrem Nachbarn leise ihre Meinung zu, andere gaben sich nicht einmal mehr Mühe, zu verbergen, was sie dachten. Als sie glaubte, die ersten Schimpfwörter zu hören, zuckte sie unwillkürlich zurück. Hatte sie vorhin noch sofort aussteigen wollen, endlich zeigen, was in ihr steckte, war diese Motivation anhand der geballten Welle an Hass, die ihr hier entgegen schlug, auf ein Minimum zusammengeschrumpft. Aufseufzend ließ sie sich nach hinten sinken, schloss kurz die Augen. Warum noch einmal tat sie sich das hier an?
     Im Grunde lebte sie den Traum jedes kleinen Mädchens, und wahrscheinlich wurde sie zusätzlich dazu auch noch von einigen Jungs und manchen Erwachsenen beneidet. Damals, als sie am Tiefpunkt ihres Lebens angekommen war, hatte sie ihren Traumprinzen gefunden und sich mit seiner Hilfe aus diesem Loch gezogen. Mit dem Unterschied, dass ihr Traumprinz im wahrsten Sinne des Wortes eines Tages eine Krone aufgesetzt bekommen würde, und sie sich mittlerweile auch Kronprinzessin nennen durfte. Schließlich war dieses zufällige Treffen schlussendlich in einer romantischen Hochzeit gegipfelt und sie war noch nie so glücklich gewesen.
      Wäre das hier ein Märchen gewesen, wäre die Geschichte nun zu Ende, und alle könnten sich zusammenreimen, wie das „Und sie lebten glücklich bis ans Ende ihres Lebens“ aussah. Nun, zu ihrem Pech war sie hier im realen Leben, und das war keineswegs der Schluss. Und leider, leider gab es viel zu engagierte Journalisten, die viel zu gerne und viel zu ausgiebig in ihrer Vergangenheit herumgestochert hatten, dabei Ereignisse entdeckt hatten, die sie am liebsten selbst vergessen hätte, weil sie selbst wusste, dass das nicht gerade das gewesen war, was sie hätte tun sollen, und schließlich waren diese übermotivierten Reporter und mit ihnen das gesamte Land zum Schluss gekommen, dass sie mit Sicherheit nicht das war, was man sich in dieser Position wünschte.
      Ihre Methode damit umzugehen war mit Sicherheit nicht die beste gewesen. Zehn Jahre lang hatte sie alles gegeben, um sich anzupassen. Zehn Jahre lang hatte sie sich verstellt. Zehn Jahre lang war sie nicht sie selbst gewesen. Zehn Jahre lang hatte sie alles Mögliche versucht, um jedem zu gefallen. Zehn Jahre lang war sie unglücklich gewesen, weil das nun einmal einfach nicht möglich war. Und eigentlich hatte sie sich geschworen, dass sie heute damit aufhören würde, dass sie endlich einmal einfach nur das machen würde, das sie zum Lächeln brachte. Nur um jetzt festzustellen, dass das doch nicht so leicht war, wie sie es sich erhofft hatte.
      Wo war so plötzlich die ganze Motivation und Entschlossenheit geblieben, die sie heute Morgen dazu gebracht hatten, sich endlich einmal nicht in die zwei Größen zu kleinen Kleider zu zwängen, die ihr nicht einmal gefielen, nur um irgendwie in diese Welt zu passen, in der sich so viel um Äußerlichkeiten drehte? Heute Morgen hatte sie sich so wohl gefühlt. Heute Morgen hatte sie zum ersten Mal gelächelt, als sie sich im Spiegel gesehen hatte, bevor sie das Haus verlassen hatte. Heute Morgen war sie sich so sicher gewesen, dass das die richtige Entscheidung war. Und jetzt?
     Jetzt kam sie sich viel zu leger gekleidet vor, in Anbetracht der vielen Journalisten da draußen, die sicher ihre eigene, wahrscheinliche negative Meinung dazu hatten. Die Kameras würden jede einzelne Bewegung einfangen, jede einzelne sei es auch noch so winzige Gesichtsregung, die ausnahmsweise einmal nicht von Tonnen Make-Up verfälscht wurden. Und alles würde so dermaßen überinterpretiert werden, bis schon wieder das ganze Land davon ausging, dass sie sich scheiden lassen würden. Und dann erst… Dann müsste sie erst recht wieder so weitermachen wie bisher, eine Rolle spielen, um alle wieder von diesem Gedanken abzubringen.
      Und wenn sie das einfach nicht machen würde? Wenn sie die Medien einfach einmal spekulieren lassen würde, nicht sofort alles tun würde, um sie davon abzubringen? Wenn sie sie einfach einmal machen lassen würde und weiterhin einfach nur sie selbst wäre? Sie dachten doch sowieso über sie, was sie wollten, und sie hatte auch in den letzten Jahren nicht das Gefühl gehabt, dass auch nur irgendetwas, das sie tat, einen Einfluss darauf hatte, davon abgesehen, dass sie sich jeden Mini-Fehler zum Anlass nahmen, sie noch mehr zu hassen.
     Das war der Gedanke, der Trotz in ihr aufstiegen ließ – Nur ein wenig, aber genug, um sie weitermachen zu lassen. Und wenn schon. Und wenn das alles hier so endete, was war dann schon dabei? Was hatte sie denn überhaupt zu verlieren? Beliebt war sie sowieso nicht, egal was sie machte. Und dann wäre sie wenigstens einmal in diesem ganzen Zirkus sie selbst gewesen. Und das war doch auch etwas wert.
    Ehe sie es sich noch einmal anders überlegen konnte, stieß sie die Autotür auf und stieg aus. Sofort blitzten tausende Blitzlichter auf, hielten jede noch so kleine Bewegung in Farbe fest. Doch ausnahmsweise, zum ersten Mal in all diesen Jahren, löste das nicht in ihr den Reflex aus, sich zu verstellen und jedem etwas vorzuspielen. Zum ersten Mal hatte sie nicht die dreitausend Regeln im Kopf, die sie sich vor der Hochzeit eingeprägt hatte, versuchte nicht krampfhaft, gerade zu stehen, niemandem zu lange in die Augen zu sehen, nur nichts zu sagen, das ihr später zum Verhängnis werden konnte. Zum ersten Mal war sie einfach mal sie selbst, ohne daran zu denken, was die anderen wohl von ihr denken mochten.
      Später, in den nächsten Tagen, sollte sie herausfinden, wie sehr man sie dafür bewunderte. Dass alle Zeitungen sich mit Lob überschlugen, aus ihr ein überragendes Vorbild machten, die allen zeigte, wie man zu sich selbst stand. Dabei hatte sie ihren Auftritt ein Mal nicht darauf ausgelegt, jedem zu gefallen. Sie hatte sich ein Mal nicht hinter der Fassade aus Perfektion versteckt, sondern war einfach echt gewesen. Und das hatte ausgereicht, um die Herzen aller zu gewinnen. Echtheit und einfach man selbst sein.
     Doch all das hatte sie in dem Moment nicht im Kopf. In diesem Moment war sie einfach nur sie selbst. Und glücklicher als in all den zehn Jahren Versteckspiel zuvor.



news created by Tina Gira: 12.12.2021